Carl, oder: Die ewigen Macken der Berlinale und warum Carl trotzdem teilnimmt
Sobald sich Berlin von seiner besonders grauen, kalten und generell ungemütlichen Seite zeigt, ist das ein Zeichen, dass wieder Februar ist und die Internationalen Filmfestspiele Berlin anstehen. Das renommierte Filmfestival, welches unter seiner Kurzform Berlinale wohl deutlich bekannter sein dürfte, scheint sich strategischerweise genau jene Wetterlage im Jahr herausgesucht zu haben, welche einen noch freiwilliger in die Sicherheit eines Kinosaals treibt als dies ohnehin der Fall ist. Darüber hinaus kokettiert die Berlinale damit, durch die Veranstaltung von Weltpremieren Stars von Hollywoodrang in die Stadt zu locken und dieser dadurch einen Hauch mehr Glamour einzuhauchen. Aus inhaltlicher Sicht gestaltet sich dieses traditionelle Festival natürlich deutlich komplexer, aber ein bisschen was ist auch an einer derartigen Vereinfachung dran. Seit mittlerweile bereits über zehn Jahren besuche ich die Berlinale in unregelmäßigen Abständen sowie in abgestufter Intensität; mal schaute ich über mehrere Tage eine ganze Reihe von Filmen, mal besuchte ich lediglich einzelne Veranstaltungen. Dieses Jahr kam ich das erste Mal in den Genuss einer offiziellen Akkreditierung und konnte diese über eine ganze Woche hinweg intensiv ausnutzen.
Bestimmte Aspekte des Festivals haben sich in all den Jahren nicht wirklich verändert, im Positiven wie im Negativen, ich möchte jene Charakterzüge an dieser Stelle mal als die ewigen Macken der Berlinale bezeichnen. Zunächst einmal ist es ein allbekannter Fakt, dass die Stadt Berlin riesig ist und ein weitläufiges Gebiet umfasst, ein Umstand, der auch die Berlinale entscheidend prägt. Zwar gibt es zentrale Festivalorte mit Bündelungen von Spielstätten, aber dennoch sind diese mitunter derart weit voneinander entfernt, dass die Übersiedlung von einer Veranstaltung zur anderen im schlimmsten Fall ganz schön knapp und stressig geraten kann, wenn bei der Ticketbuchung nicht explizit auf die geografischen Gegebenheiten geachtet wurde. Die Buchung der Tickets selbst ist so eine Sache, findet sie doch jeweils genau zwei Tage vor der entsprechenden Veranstaltung statt - und das 7 Uhr morgens. Auf zu viel Schlaf werden also all jene verzichten müssen, die sich im Voraus ein ganz bestimmtes Filmprogramm zusammengestellt haben, für das sie jeden Tag aufs Neue Tickets ergattern wollen und trotzdem nicht von Screenings nach 21 Uhr absehen möchten. Immerhin bedeutet die Ticketbuchung mittlerweile nicht mehr ein physisches Anstehen, sondern findet ausschließlich online statt und kann im Halbschlaf vom gemütlichen Bett aus vorgenommen werden.
Was das Festivalflair der einzelnen Spielstätten angeht, so variiert dieses bei der Berlinale ganz gewaltig – von großartigen Filmpalästen wie dem Kino International, dem Delphi und dem Zoopalast, über heruntergekommenen Multiplexmief wie im Cubix am Alexanderplatz (beziehungsweise Kubrix, wie unser aller KiK-Papa Martin es liebevoll zu nennen pflegt), hin zu Orten, welche eigentlich gar nicht für Filmvorführungen vorgesehen sind und nur zeitweise dafür umgerüstet werden, beispielsweise das Haus der Berliner Festspiele, die Akademie der Künste oder der (würg) Berlinalepalast am Potsdamer Platz.
So unterschiedlich wie die Spielstätten selbst fallen sowohl der Sitzkomfort als auch die allgemeine Seherfahrung bei den Veranstaltungen aus. Das wird nach sieben Tagen mit im Schnitt über vier Filmen am Tag und rund 12 Stunden im Kino sitzen irgendwann aber eher zweitrangig – mehr als taub und platt kann ein Po nicht gesessen werden. Zudem helfen einem die angenehmen Aspekte der Berlinale darüber hinweg. In der Regel empfinden es die beteiligten Filmemacher*innen als eine Ehrung, dass ihr Film bei diesem Filmfestival gezeigt wird, weshalb eine Großzahl der Veranstaltungen in ihrer Anwesenheit stattfindet und Filme oft von interessanten Frage-Antwort-Runden begleitet werden – wenn denn genügend Zeit dafür bleibt bei dem Gehetze zur nächsten Veranstaltung. Zudem konnte die Berlinale dieses Jahr scheinbar viel Publikum anlocken, denn beinahe alle meiner Screenings waren gut gefüllt. Bei einer intelligenten Filmprogrammerstellung und Ticketbuchung bietet sich zwischen bestimmten Programmpunkten mitunter sogar die Möglichkeit, seine müden Glieder einmal auszustrecken und mit lieben Menschen die kulinarische Vielfalt Berlins zu genießen. Denn auch wenn die deutsche Hauptstadt im Februar wettertechnisch nicht gerade zu einem ausgiebigen Stadtbummel einlädt, hat sie leckeres Essen aus aller Welt zu bieten, was bei gewissen Vorkenntnissen sogar einigermaßen erschwinglich bleiben kann. Dieses Jahr habe ich es in vollen Zügen genossen, viel Zeit in und um die Kinos herum mit meinen KiK-Freunden verbringen zu können, da hat dann zur Not auch mal der möglichst einfache und billige Döner um die Ecke gereicht.
Die inhaltliche Vielschichtigkeit der Berlinale erstreckt sich über eine ganze Reihe von Sektionen, die sich in ihrer Auswahl von Filmen unterschiedliche Schwerpunkte setzen – oder zumindest setzen sollten. Alle Sektionen an dieser Stelle ausgiebig einzeln vorzustellen und miteinander zu vergleichen wäre keinesfalls interessant zu lesen und würde den angemessenen Rahmen meines Beitrags zu diesem Sammelartikel deutlich sprengen. Es sei diesbezüglich nur kurz von meiner Seite angemerkt, dass ich mich aus persönlicher Erfahrung heraus in meiner Filmprogrammzusammenstellung auf bestimmte Sektionen konzentriere und gewisse andere Aspekte der Berlinale erfahrungsgemäß eher meide. Im Bezug auf den offiziellen Wettbewerb hat sich meine vorangegangene Vorsicht auch dieses Jahr wieder bestätigt, da ich zwar nicht viele der dortigen Beiträge gesehen habe, mich das Gesehene aber nahezu ausnahmslos kalt gelassen hat. Deutlich bessere Erfahrungen mache ich traditionell mit den Sektionen Forum und Retrospektive und auch dieses Jahr habe ich in diesen Sektionen die meisten sehenswerten Filme angetroffen. Meine beiden filmischen Höhepunkte der Berlinale-Ausgabe 2023, die ich nachfolgend kurz vorstellen möchte, waren bezeichnenderweise ebenfalls Teil dieser beiden Sektionen.
Von den aktuellen Filmbeiträgen hat mich dieses Jahr vor allem der französische Dokumentarfilm Notre Corps (Our Body) im Forum nachhaltig beeindruckt. Darin betrachtet die Regisseurin Claire Simon in Zusammenarbeit mit einem kleinen Filmteam jene Abteilungen eines Pariser Krankenhauses, welche sich explizit mit dem weiblichen Körper und im weitesten Sinne mit dem Thema Geschlechtlichkeit befassen. Es wird behutsam und mit großer Geduld der Alltag in der Gynäkologie, im Operationssaal, bei der Hormontherapie (und so weiter) beobachtet, wobei sich die Patient:innen mitunter von den Arztgesprächen über Untersuchungen hin zur tatsächlichen Behandlung begleiten lassen und auch die Arbeit des entsprechenden Krankenhauspersonals ausführlich Beachtung findet. Selbst bei den persönlichsten Einblicken gerät der Film jedoch niemals in einen reißerischen Voyeurismus, sondern bleibt stets würdevoll in seinem offen-menschlichen Blick auf die gezeigten Geschehnisse.
Die Kameraarbeit hat mich dabei außerordentlich begeistert, da sie es schafft, auch bei auf den ersten Blick trockenen und sich wiederholenden Vorgängen immer wieder faszinierende neue Perspektiven zu finden – und das bei einem weitestgehenden Verzicht auf einen erklärenden Audiokommentar. Toll ist auch, dass sich Claire Simon als Filmemacherin weder zu sehr in den Vordergrund drängt, noch ihre eigene Perspektive auf das Thema vollkommen verborgen hält. Nachdem sie in eigener Person zu Beginn des Films an das porträtierte Krankenhaus heranführt und den eigenen Bezug zur Thematik darlegt, hält sie sich anschließend weitgehend zurück, stellt ab und zu Fragen von hinter der Kamera, bevor sie schließlich überaschenderweise sogar das eigene Schicksal auf einer Ebene neben jenem ihrer Protagonist:innen in den Blick nimmt. Auf dem Papier mag Notre Corps mit seinen fast drei Stunden Laufzeit wie ein schwer zu bewältigendes Monstrum wirken, aber beim tatsächlichen Schauen war ich aufgrund der beschriebenen Vielschichtigkeit des Films derart gebannt, dass er sich zu keinem Zeitpunkt langatmig angefühlt hat. Eine kleine Warnung sei noch für all jene ausgesprochen, die Probleme damit haben, Blut zu sehen oder sich Aufnahmen von Operationen anzuschauen: In dieser Hinsicht ist dieser Dokumentarfilm nichts für schwache Gemüter – aber der unerschrockene Blick lohnt sich unbedingt. Unser aller KiK-Onkel Olli hat den Film in dieser Hinsicht sogar mit Komm und sieh verglichen, was für ein Kompliment!
Im Rahmen der Retrospektive der Berlinale 2023, die sich das Thema Coming-of-Age auf die Fahnen geschrieben hatte, hat mich der französische Spielfilm De bruit et de fureur (Sound and Fury) aus dem Jahr 1988 ganz besonders in seinen Bann genommen. Der Film von Regisseur Jean-Claude Brisseau ist insofern ein Coming-of-Age-Film, als dass er einen jungen Menschen in einem Entwicklunsprozess begleitet, er geht dabei aber äußerst anarchisch und unkonventionell vor. Die Hauptfigur Bruno (Vincent Gasperitsch) ist ein Jugendlicher von 13 Jahren, der seine Kindheit schon lange hinter sich gelassen zu haben scheint, falls er denn je wirklich eine hatte. Zu Beginn des Films wird er nach Aufenthalten in einer Reihe von Erziehungsanstalten zu seiner Mutter in eine Hochhauswohnung in einem der Pariser Banlieus entlassen. Dort ist er jedoch fortan sich selbst überlassen, die Mutter kommuniziert nur über hinterlegte Nachrichten mit ihm, scheint sonst dauerhaft abwesend zu sein, ob nun auf Arbeit oder anderswo. Stattdessen gerät er an den aufsässigen, geradezu gewalttätigen Mitschüler Jean-Roger (François Négret), der mit seiner dissozialen Familie im selben Haus wohnt.
Es folgt eine unerschrockene Darstellung junger Menschen, welche in einer vollkommen verwahrlosten Welt voller abwesender und gleichgültiger Erziehungsberechtigter aneinander Halt suchen, zugleich aber auch sich und ihre Umwelt bekriegen – ja, das ist an dieser Stelle wortwörtlich gemeint. Es werden Molotowcocktails auf Polizist:innen geworfen, Fußabtreter und Obdachlose angezündet, Hunde hinter Motorräder angebunden (keine Angst, es wurde ganz offensichtlich mit einem Kuscheltier gedreht). Auch hier ist eine Warnung angebracht, denn das Gezeigte ist oftmals nichts für schwache Gemüter. Zudem mag es streitbar sein, in welcher teilweise grotesk wirkenden Drastik Jean-Claude Brisseau die Verwahrlosung einer ganzen jungen Generation darstellt. Dennoch wirken diese Szenen wie ein authentischer Hilfeschrei, eine tief sitzende Kritik an einer Gesellschaft, die die Bedürfnisse ihrer Heranwachsenden außer Acht lässt. Brunos junge Lehrerin (Fabienne Babe) ist eine der wenigen Erwachsenen, die wirklich an ihm, seinem Potential und seinem Wohlbefinden interessiert zu sein scheint, wo sie doch mit ihrer überfüllten und rebellierenden Schulklasse sonst zu scheitern droht. Allerdings wird ihre fürsorglich-liebevolle Annäherung aneinander seitens der Schulleitung aufgrund von gestreuten Gerüchten bereits im Keim erstickt.
In seinen stärksten Momenten weiß De bruit et de fureur auch ganz feinfühlige, poetische Bilder für die Sehnsüchte seiner Protagonist:innen einzusetzen, die ihre Strahlkraft gerade im Kontrast zu der sonstigen rohen Gewalt entwickeln. So wird beispielsweise das sexuelle Erwachen Brunos über die fantastisch anmutende Begegnung mit einer engelsgleichen Figur (María Luisa García) inszeniert, die ihm nachts in der leeren Wohnung erscheint, und immer wieder tauchen Vögel in verschiedener Form auf, um seinen starken Drang nach Freiheit bildhaft zu symbolisieren. Es ist die Vereinigung dieser beiden Extreme, wenn Brutalität auf Feinsinn trifft, welche diesen Film für mich zu einem eindrücklichen Erlebnis hat werden lassen, dessen Bilder mir noch lange im Gedächtnis bleiben werden.
Derartig beeindruckende Seherfahrungen auf großer Leinwand in gefüllten Kinosälen haben die diesjährige Berlinale insgesamt betrachtet für mich zu einem Erfolg gemacht, neben den bereits genannten wunderbaren Randumständen. Dennoch haben auch die ewigen negativen Macken dieses Festivals ihre Spuren hinterlassen und lassen mich darüber nachdenken, die Berlinale im kommenden Jahr mal wieder ganz zu boykottieren. Stattdessen könnte ich vielleicht einige Veranstaltungen der Woche der Kritik besuchen – ein alternatives Berliner Festivalformat, welches zeitgleich diverse Filme präsentiert, die für ein derart renommiertes Filmfestival wahrscheinlich zu sperrig sind, und auf diese Weise die inhaltlich-kritische Relevanz der Berlinale hinterfragt. Und sei es nur, um mir nicht ein weiteres Jahr vor jedem Screening den immer gleichen einfallslos-öden Festivaltrailer anschauen zu müssen, in dem sich eine goldene Ferrero-Rocher-Kugel™ bestehend aus Berliner Bären vor den Namen der milliardenschweren Sponsorenfirmen für Reiche und Schöne dreht – denn ja, auch das ist die Berlinale.
Anne, oder: Kinderfilme, Dokumentationen und starbesetzte Weltpremieren.
Meine erste echte Berlinale! War ich darauf vorbereitet, 18 Filme in einer Woche zu gucken? Nein. Hat es sich angefühlt als würde ich 18 Filme in einer Woche gucken? Auch nein. War ich trotzdem ständig müde und hechtete nur hin und her durch Berlin? Joooo.
Dennoch möchte ich von meinen Highlights erzählen. Wobei ich sagen muss, dass keines der Events wirklich schlecht war. Es gab Sachen, die ich weniger verstanden hab, oder wo ich einfach zu müde war, aber schlecht war kein Film.
Wenn ich jetzt so drüber nachdenke, wovon ich erzählen will, war davon alles an einem einzigen Tag. Mein Berlinale-Montag war also ein kompletter voller Erfolg. Die anderen Highlights werden von anderen KiK-Kolleg:innen erwähnt (Suzume, Kristen Stewart, Retrospektive …).
Mein Montag begann mit einer „Kinderveranstaltung“ im Kino Friedrichshain, wo ich mich plötzlich in einem riesigen Saal voller schwatzender Kinder wiederfand. Was hab ich bei einer 9:30 Uhr Vorstellung auch erwartet. Ich erhaschte mir (wie so oft) einen schönen mittigen Platz und hatte sogar Erwachsene auf einer Seite neben mir. Immerhin gibt es bei Berlinale-Vorstellungen kein Popcorn und sonstiges, das blieb meinem Kopf also erspart. Es gab nur wundersame Kommentare.
Gesehen habe ich »Dancing Queen« im norwegischen Original mit englischen Untertiteln. Da ja aber der Saal voller Kinder war, gab es eine Live-Einsprecherin in deutsch. Man möchte denken, dass dieser Drei-Sprachen-Mix super verwirrend und ablenkend ist, aber komischerweise habe ich wirklich alles verstanden und war tief in der Geschichte gefangen. Trotz dem „coolen“ Boy neben mir mit Kapuze, Wasserflasche und Füßen auf dem Sitz, der zu cool für den Film war.
»Dancing Queen« ist die Geschichte eines jungen Mädchens in einer norwegischen Kleinstadt. Sie ist ein Nerd, hat einen besten Freund mit dem sie sich per Walkie Talkie unterhält und ist nicht gerade beliebt in der Schule. Ein neues Schuljahr geht los und ein neuer Schüler kommt auf ihre Schule. Er ist bereits ziemlich berühmt in den großen Städten, weil er Hip Hop tanzt. Sie ist sofort begeistert und will plötzlich auch anfangen zu tanzen. Durch ihren Mut und ihre Passion schafft sie es auch in die Tanzgruppe und wird sogar mit ihrem Schwarm gepaart. Der ist aber gar nicht so nett und sagt ziemlich fiese Dinge zu ihr. Was folgt sind Wochen, in denen sie nur tanzt, die Schule vernachlässigt und aufhört zu essen, weil der Tänzer sagte, sie sei zu dick. Nur ihre Oma hilft ihr durch die schwierigen Zeiten, denn die Oma war früher auch Tänzerin.
Viel mehr will ich gar nicht verraten. Ich sage nur: Ich habe gelacht, ich habe Tränen in den Augen gehabt und ich konnte mich extrem in verschiedene Figuren hineinversetzen. Ein wirklich wunderschöner Film mit mehreren sehr emotionalen Stellen (der ältere Herr neben mir schniefte auch ganz schön).
Nachdem ich dann die ersten drei Episoden von Der Schwarm (nach dem - von mir sehr gemochten - Buch von Frank Schätzing) sehen durfte, ließ ich mich genüßlich zu Hummingbirds nieder. Ich wusste nicht was mich erwartet, aber der Film (oder die Dokumentation) hat mich so weggehauen, dass sie bis Suzume mein Highlight der Berlinale war. Ich liebte jede Sekunde. Es geht um zwei Mädels an der mexikanischen Grenze in den USA. Einwanderer, nicht wirklich Dazugehörige, weder hier noch da. Sie sind jung, sie sind fast noch Kinder, sie machen jugendliche Sachen (wie sich die Nägel lackieren, die Haare abschneiden, Klamotten anprobieren, Gossip austauschen), aber auch Dinge, die man keinem „Kind“ zumuten möchte. Sie gehen protestieren, für das Recht auf Abtreibung, gegen furchtbare Gesetze, für Toleranz. Beide hatten bereits selbst eine Abtreibung hinter sich. Beide müssen für ihre Familien aufkommen. Beide haben wenig Geld. Beide träumen davon, ihren Ort zu finden, den Ort, zu dem sie gehören. An dem sie nicht wieder abgeschoben werden. Der Wechsel zwischen ernsten Themen und jugendlichem Leichtsinn ist schwimmend, von einer Sekunde auf die nächste kann die Stimmung wechseln. Dadurch lässt sich Hummingbirds einfach weggucken, ohne Längen, ohne Langeweile. Die Filmemacherinnen sind sowohl Regisseurinnen als auch Hauptdarstellerinnen, weswegen der Film auch unter Dokumentation fällt. Beide zeigen einfach eine Momentaufnahme ihres Lebens und inszenieren diese so grandios gut. Eine wahre Perle.
Abschließend möchte ich nur erwähnen, dass ich ebenfalls am Montag bei der Weltpremiere zu Inside war, mit Willem Dafoe und Team, die hinter mir saßen. Der Film handelt von einem Kunstdieb, der selbst eingesperrt wird (aus Versehen). Am Abend war ich dann noch bei der Weltpremiere von Seneca im Berlinale Palast, wo ich auch über den roten Teppich laufen durfte. Anwesend waren auch John Malkovich, Geraldine Chaplin, Louis Hofmann und natürlich Regisseur Robert Schwentke (und der Rest des Teams). Ich wusste absolut nicht, was mich erwartet und ich weiß immer noch nicht so recht, was da auf der Leinwand passiert ist. Ich kann nur sagen: Louis Hofmann, grandios gespielt! Und hey, die ganzen Leute mal Live vor mir zu sehen, war auch nicht übel :D
Olli, oder: Adoleszenzretrospektive, James Dean und der Steinfilm
Das erste Mal Berlinale. Ein paar Filmfestivals hatte ich zwar schon vorher besucht, aber 10 Tage Festival, ist doch nochmal eine andere Hausnummer, das gleicht dann doch eher einem Marathon, vor allem bei den kilometerweiten Strecken zwischen den Spielstätten einer Metropole. Dank meiner Vorerfahrungen wusste ich allerdings, worauf es ankommt: Ausreichend Schlaf (kein Screening vor 11Uhr), längere Essenspausen und natürlich genug Club Mate. Dadurch konnte ich ohne Kinosaalnickerchen insgesamt über 30 Filme erleben. Es hätten zwar durchaus 40 werden können, aber man muss es ja nicht gleich übertreiben. Ein Vorteil des Festivalstandorts Berlin ist nämlich, dass man durchaus auch mal einen Tag Auszeit nehmen kann, um alte Berliner Freundschaften zu pflegen. Die verpassten Weltpremieren, wie z.B. Christian Petzolds preisgekürten Roter Himmel muss man dafür allerdings bereit, sein in Kauf zu nehmen.
Aus den zahlreichen (manchmal etwas unterscheidungsarmen) Sektionen des Berlinaleprogramms haben es mir besonders das Forum und die Retrospektive angetan. Das Forum bildet das künstlerisch wertvolle Nebenprogramm zum Wettbewerb. Sie beherbergt alles vom politischem Film über außereuropäischem Avantgarde bis hin zu experimentellem Dokumentarfilmen. Also eine liebevoll kuratierte Sektion, die die Bandbreite des Medium Films darstellt, kurzum das eigentliche Hauptprogramm für Cineasten. Die Retrospektive ist hingegen eine Sektion, die einen Blick in die filmische Vergangenheit wirft; diesjähriges Thema war Young at Heart – Coming of Age at the Movies. Bei der Ankündigung war ich anfangs ziemlich enttäuscht, da sich für mich das Interesse an Adoleszenzsdramen langsam erschöpft hat. Ähnlicher Meinung war anscheinend auch das Retrospektive-Kuratorium, denn sie hat die Filmauswahl einfach outgesourct! 28 internationale Filmschaffende wurden gefragt, was ihre persönlichen Coming-of-Age-Favoriten sind. Diese Personalisierung bot einen Einblick in die Gedankenwelt verschiedener Filmikonen, was mich dann doch sehr gereizt hat. Außerdem wurden sowieso viele Klassiker der Filmgeschichte gewählt, die ich noch auf der Watchlist hatte.
Wobei man erwähnen sollte, dass manche Filmschaffende das Thema sehr großzügig interpretiert haben. Schauspielerin Juliette Binoche hat beispielsweise mit ihrer Wahl für Trois couleurs: Bleu sogar das Kuratorium verwundert, da sie zum einen dort selbst die Hauptrolle spielt (mit Ende Zwanzig wohlgemerkt), der Film aber auch im klassischen Sinne eher nicht zum Coming of Age zählt. Auf mich wirkte das von ihr doch arg selbstverliebt, nichtsdestotrotz war ich froh, den Film endlich einmal sehen zu können.
Mein großes Highlight in der Retrospektive war es allerdings, endlich James Dean kennenzulernen. Gehört hatte ich schon einiges über die jung verstorbenen Stilikone, am meisten wurmte mich aber seit meiner Jugend eine nicht mehr aus dem Kopf gehende Liedzeile. Im Krafklub-Song "Zu Jung" heißt es: “Ich fühl mich wie James Dean, wenn ich auf sein Grundstück piss!”. Leider habe ich die Angewohnheit, Filmklassiker für “besondere” Momente aufzuheben, weswegen ich auch die aufklärende James Dean-Bekanntschaft lange aufgeschoben habe. Zu meinem Glück bot mir die diesjährige Berlinale endlich den geeigneten Anlass, meine filmhistorischen (& liedverständlichen) Kenntnislücke zu schließen. Der deutsche Filmregisseur Wim Wenders hatte mit Rebel Without a Cause den James Dean-Film gewählt, der das Sub-Genre selbst begründet hat und vom Kurator deswegen liebevoll auch als “Daddy der Coming-of-Age-Filme” bezeichnet wurde.
Vor dem Filmstart gab es durch den Regieveteranen eine kleine persönliche Einleitung, dessen Betonungsart, wie ich feststellen durfte, auf Englisch deutlicher weniger prätentiös rüberkommt als auf Deutsch. Neben den James Dean-Anekdoten von Nicholas “I taught him how to walk” Ray und Dennis “I couldn’t take my eyes off him” Hopper, erzählte Wenders, dass sich Warner schon etliche Jahre vor Film-entstehung die Rechte am titelgebenden Buch von Robert M. Lindner sicherte. Allerdings handelt es sich dabei nicht, wie man denken würde, um einen Roman, sondern stattdessen um eine wissenschaftliche Abhandlung über die Jugendkriminalität der 40er Jahre. Basierend auf diesen kriminalpsychologischen Interviews entwickelte Regisseur Ray seine Filmgeschichte über die Generationenkonflikte der damaligen Zeit.
James Dean spielt hierbei den jugendlichen Draufgänger Jim, der aufgrund eines vorhergehenden Ärgers mit seiner bürgerlichen Familie frisch nach Los Angeles gezogen ist. Infolge von öffentlicher Trunkenheit landet Jim jedoch direkt auf der Polizeiwache. Dort macht er die flüchtige Bekanntschaft mit zwei Gleichaltrigen, dem Außenseiter John alias “Plato” (Sal Mineo) und der aufreizenden Judy (Natalie Wood). Alle drei erzählen in ihren Verhören mit dem Polizeibeamten über ihre persönlichen Schwierigkeiten. Tags drauf stellt Jim fest, dass beide zufälligerweise auch auf seine neue Schule gehen. Allerdings schafft er es durch seine Art, sich gleich am ersten Schultag mit Judys Rowdy-Gang anzulegen, welche ihn als “Chicken” beleidigen. Da er sich das natürlich nicht gefallen lassen kann, entspinnt sich ein konfliktreiches Adoleszenzdrama, was mithilfe von Messern, Autos und Wortgefechten ausgetragen wird.
Getragen wird der Film aber eindeutig durch die eigenwillige Art von James Dean, womit er mich auch sofort in seinen Bann gezogen hat. Obwohl der Film fast 70 Jahre alt ist, wirkt er durch seine immer noch aktuellen Themen, wie das Ausverhandeln von Geschlechternormen und das offene Austragen eines Generationenkonflikts, erstaunlich modern. Genauso modern war übrigens auch die gezeigte Fassung des Cinemascopefilms, da es sich um die Weltpremiere der neuen 4K-Restauration handelte. So lob ich mir das! Weltpremieren sind übrigens ein Luxus, an den man sich auf der Berlinale erstaunlich schnell gewöhnt.
Nicht ganz Weltpremiere, aber immerhin internationale Premiere hatte nämlich auch mein Highlightfilm der Forumssektion. Der japanische Film Ishi ga aru (There Is a Stone) oder, wie ich ihn in liebevoller Antizipation die Woche über immer genannt habe: “Der Steinfilm”.
Es handelt sich erst um den zweiten Film des jungen Regisseurs Tatsunari Ota und ist definitiv etwas eigen. Gleich vorab: Storytechnisch hat der Film nicht wirklich etwas zu erzählen, aber vermutlich konnte ich mich gerade deswegen so gut wie schon lange nicht mehr in ihm fallen lassen.
Eine junge Frau (An Ogawa) sucht vergeblich nach touristischen Orten im Umland einer recht unansehnlichen japanischen Kleinstadt. Etwas niedergeschlagen fragt sie schließlich einen alten Einheimischen, ob es denn in der Gegend irgendetwas Sehenswertes gäbe. Dieser mustert sie nur mit leerem Gesichtsausdruck und antwortet mit einer verlegenen Verwirrtheit. Da ihr Bus zurück nach Tokio noch eine Weile braucht, entschließt sie sich am steinigen Flussbett des Ortes zu warten. Dort trifft sie auf einen jungen Mann (Tsuchi Kanou) der zum Zeitvertreib gerade Steine hüpfen lässt. Gemeinsam verbringen sie die restliche Zeit des Tages mit diversen sinnlosen Spielchen, wie Steine stapeln, Stöcke balancieren und Steinwurfübungen. Ein ruhiges Filmportrait eines ungewöhnlichen Kennenlernprozesses an einem filmischen Nichtort.
Die Figuren tauschen dabei nicht einmal ihre Namen aus und haben generell auch kaum Dialog miteinander, sie kommunizieren fast nur über Körpereinsatz und ihre Interaktion mit der Umgebung. Regisseur Ota schafft es meisterhaft, mit der Erwartungshaltung der Zuschauer:innen zu spielen. Die erfolglose Ortssuche am Anfang des Films hat mich anfangs so verwundert, dass ich mich gefragt habe, wo der Film denn eigentlich hin will, um irgendwann vollständig zu verstehen, dass er nirgendwo “hin will”. Er ist dort wo er sein will: Im Moment. Diesen kostet der “Steinfilm” vollkommen aus und lässt sich von ihm dahin treiben. Die Kamera lässt die Bilder teilweise lange stehen, als wenn noch etwas kommen müsste oder es gibt einfach einen Kameraschwenk ins Nichts, nur damit ab und zu dann doch eine der Figuren unerwartet wieder auftaucht. Vieles lebt von der Improvisation der Darsteller mit ihrer Umgebung. Die zauberhafte Soundkulisse bis in die kleinsten Töne erzeugt ein magisches Gesamtbild. Im Anschluss-Q&A erzählte der Filmemacher, dass der Tontechniker sogar extra nach dem fertigen Filmschnitt nochmal alleine an den Drehort gereist ist, um Geräusche wie z.B. das Fußstapfen im Sand, das Plätschern der Steine und Vogelhintergrundgeräusche aufzunehmen.
Gegen Filmende gibt es dann eine Szene, wo das erlebte Tagesgeschehen nochmal schriftlich in einem Tagebuch festgehalten wird. Zu sehen, wie die Filmhandlung langsam in wenigen Zeilen niedergeschrieben wird, hat mich unerwartet emotional getroffen, weil man weiß, wie viel eigentlich hinter und zwischen allen banal wirkenden Sätzen steckt, sodass ich bis heute immer noch über Ishi ga aru nachdenke. So etwas lässt sich nicht einfach in Worten reproduzieren, dafür bedarf es schon die Kraft des Mediums Film. Eines schafft There is a Stone aber sehr deutlich zu machen: Der Ort ist nicht das Entscheidende, sondern das Erlebnis trägt die Erinnerung.
Lukas, oder: Der Festivaltourist, ein Stuhl und das Schicksal
Bei all diesen umfangreichen Erlebnissen meiner festivalerfahrenen Kolleg:innen komme ich mir beinahe wie ein Hochstapler vor. Ich habe mir nämlich keine Akkreditierung geholt, sondern bin einfach am Abschlusswochenende nach Berlin gefahren, um noch ein paar Highlights abzugreifen. Quasi ein Festivaltourist. Wenn einem nur zwei Tage zur Verfügung stehen, muss man natürlich sehr sorgfältig auswählen, was man sehen möchte. Mich hätte z.B. auch die Spielberg-Retrospektive sehr gereizt, aber schaut man sich wirklich nochmal Schindlers Liste, Jäger des verlorenen Schatzes oder E.T. an, wenn man nur begrenzte Zeit zur Verfügung hat? Nein, da standen andere Filme weiter oben auf meiner Agenda, insbesondere die beiden Wettbewerbsfilme Suzume und Past Lives: einerseits der neue Animefilm von Your-Name-Regisseur Makoto Shinkai, andererseits der Debütfilm der koreanisch-kanadischen Regisseurin Celine Song, der viel Vorschusslorbeeren beim Sundance-Festival erhalten hat. Natürlich habe ich mir sofort Tickets besorgt, sobald der Verkauf freigegeben war. Man weiß ja nie, wie schnell die ausverkauft sind. Und siehe da, für beide Filme waren innerhalb von Minuten keine Tickets mehr verfügbar. Großer Tipp also für alle künftigen Berlinalist:innen: Wenn euch bestimmte Filme interessieren, informiert euch, wann der Ticketverkauf beginnt!
Zufrieden, dass ich alle meine Wunschtickets ergattern konnte, machte ich mich also am Freitag auf die Reise nach Berlin. Alles war präzise durchgetaktet, natürlich hatte ich mich auch schon informiert, welche Verbindungen ich nehmen muss, um rechtzeitig in den jeweiligen Kinos zu sein. Die Anreise war ein typisches Fernbus-Erlebnis: Auf dem Nachbarplatz meines gebuchten Sitzplatzes hatte zuvor jemand Bier verschüttet, sodass der gesamte Boden bedeckt war. Naja, immerhin war es preiswert (wird Zeit, dass das Deutschlandticket kommt, aber ich schweife ab).
Am Samstag ging es für mich vormittags erstmal in Szürkület ("Dämmerung"), einen ungarischen Krimi von 1990. Auf Letterboxd hatte jemand geschrieben, der wäre wie als ob Bela Tarr Twin Peaks inszeniert hätte und ich kann mich dem nur anschließen. Ultralangsam mit minutenlangen Einstellungen, sehr fokussiert auf die einsame Karpatenlandschaft, in der er spielt. Inhaltlich handelt es sich um eine lose Adaption von Es geschah am hellichten Tag, allerdings aufs Rudimentärste reduziert. Trotz der wunderschönen Schwarz-Weiß-Bilder gelang es mir nicht, wach zu bleiben. Der warme Kinosaal, die Tageszeit und die sich ständig wiederholende Musik haben auch nicht wirklich geholfen. Am interessantesten war für mich noch, woher mir dieser Chorgesang so bekannt vorkam. Bald kam die Erleuchtung: es handelte sich um den georgischen Gesang, den Kate Bush in ihrem Song "Hello World" verwendet hat! Doch auch diese Erkenntnis konnte mich nicht vorm gelegentlichen Wegdösen retten. Schade um den Film, in einem anderen Wachheitszustand hätte der mir vielleicht gefallen. Martin war jedenfalls sehr angetan von dem Film, auch er hat aber zwei Anläufe gebraucht (ach, das Privileg der Akkreditierten, sich einen Film einfach zweimal anschauen zu können).
Diese Erfahrung hat sich glücklicherweise nicht wiederholt. Alle anderen Filme, die ich mir vorgenommen hatte, konnte ich aufmerksam mitverfolgen und haben es mir sehr angetan. Das nächste Highlight war z.B. schon die Veranstaltung, die ich direkt im Anschluss besucht hatte: Ein Programm im Arsenal-Kino, bestehend aus zwei Kurzdokus aus der DDR. Bei Ein Herbst im Ländchen Bärwalde und Oyoyo handelte es sich allerdings um zwei ganz besondere Filme, nämlich um zwei Studiumsprojekte von internationalen Studierenden der HFF Babelsberg. Gautam Bora und Chetna Vora, beide aus Indien, haben zwei Filme geschaffen, die nicht nur einen interessanten Blick auf das Leben in der DDR bieten, sondern auch sehr unterhaltsam sind. Besonders Oyoyo, der das Leben in einer internationalen Studierendenunterkunft schildert, hatte es mir sehr angetan und war für mich ein Highlight der Berlinale. Schade, dass Vora früh verstorben ist und ihr einziger weiterer Film, die Langdoku Frauen in Berlin, vor der Fertigstellung vernichtet wurde und nur als heimlich abgefilmte VHS erhalten ist.
Doch kommen wir nun zu dem Film, auf den ich mich am meisten gefreut hatte. Für Suzume ging es für mich nach Friedrichshain, in die noch recht neu erbaute Verti Music Hall (erst seit 2018 in Betrieb). Doch erst nachdem ich mich direkt gegenüber mit vorzüglichem japanischen Essen gestärkt hatte.
Während ich bei den anderen Kinos immer ca. 30 Minuten vor Filmbeginn da war, um einen möglichst mittigen Platz zu ergattern, stand ich in der Verti Hall sogar noch eher in der Schlange. Schließlich handelt es sich mit einer Kapazität von 1840 Plätzen um die Größte der Berlinale-Spielstätten. Und auch wenn die Bestuhlung nur aus normalen Klappstühlen und nicht aus Kinosesseln bestand: Ich war sehr begeistert. So eine riesige (Indoor-)Leinwand habe ich bisher noch nie erlebt und für so einen bildgewaltigen Film wie Suzume war das nur sehr angemessen. Ich bin zugegebenermaßen nicht mal der größte Shinkai-Fan. Your Name finde ich genial, aber schon der direkte Nachfolger Weathering With You konnte mich nicht mehr so sehr begeistern und auch seine Frühwerke ließen mich eher kalt. Von denen konnte ich noch am meisten mit Die Reise nach Agartha anfangen, aber auch nur, weil der so ein dreistes Ghibli-Imitat war. Aber mit Suzume ist Shinkai wieder ein großer Wurf gelungen: Ein Anime-Kunstwerk, welches sich in wunderschön anzuschauenden Bildern mit dem Thema "Naturkatastrophen in Japan" auseinandersetzt. Nicht nur, dass die Story mitreißend geschrieben ist und voll von sympathischen Charakteren (insbesondere spielt ein lebendiger Holzschemel eine tragende Rolle), sie bietet auch einen interessanten Blick auf das Verhältnis der Japaner zu ihrer wankelmütigen Insellandschaft. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Film in Japan bestimmt nochmal anders eingeschlagen ist, insbesondere die Verarbeitung der Touhoku-Erdbebenkatastrophe von 2011 dürfte für viele Einheimische noch deutlich emotionaler sein. Doch auch ich war vom Finale so ergriffen wie seit Jahren von keinem Film. Mag sein, dass der Film emotional etwas manipulativ ist, aber bei mir hat er genau die richtigen Knöpfe gedrückt und ich freue mich schon darauf, ihn im April erneut zu schauen, wenn er seinen regulären Kinostart hat. Nach dem Film musste ich sehr überhastet schon während des Abspanns aufbrechen (was ich normalerweise nie mache), um rechtzeitig im Cubix am Alex zu sein für die Vorstellung der Highschool-Kultkomödie Ferris macht blau. Das Cubix dürfte als Retrospektive-Kino der diesjährigen Berlinale wohl der Hauptaufenthaltsort einiger KiKler:innen gewesen sein, ist aber leider ein eher gewöhnliches Kettenkino ohne viel Atmosphäre. Wie dem auch sei, Ferris macht immer noch enorm viel Spaß und ich schäme mich fast etwas dafür, wie sehr ich diesen Film liebe, der nur so trieft vor Reagan-istischem Mitt-80er-Kapitalismus und eine eigentlich ziemlich verwerfliche Hauptfigur hat. Abgesehen davon ist der Film einfach eine famos inszenierte Komödie und besonders mit einem bestens aufgelegten Festival-Publikum ein echter Gute-Laune-Garant.
Am nächsten Tag ging es für mich in Past Lives, der um 9.30 Uhr im Haus der Festspiele in Wilmersdorf gezeigt wurde. Gar kein einfaches Unterfangen, da meine Schlafstätte sich im weit entfernten Adlershof befand. Nun gut, dann bricht man eben 7.45 Uhr auf, was macht man nicht alles im Dienste der Kinoleidenschaft. Das Festivalpublikum war aber auch schon früh auf Achse und so hatte sich um 9 Uhr bereits eine lange Schlange vor der Spielstätte gebildet, einem Theatergebäude aus den 60ern mit schönem, großen Saal (aber recht engen Sitzreihen). Der Film war dann auch wirklich großartig. Ein romantisches Drama, welches sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt, über zwei Koreaner:innen, die als Kinder kurz ein Paar waren, aber dann getrennt wurden, da Nora (großartig: Greta Lee) mit ihrer Familie nach Amerika auswanderte. Jahre später lebt Nora als Drehbuchautorin in New York und ist mit dem Schriftsteller Arthur (John Magaro) verheiratet. Als Hae Sung (Teo Yoo) zu Besuch kommt, flammen alte Gefühle wieder auf. Ein Film mit einer recht simplen, geradlinigen Handlung, aber einer enormen emotionalen Komplexität. Die Dialoge, in denen viel über das koreanische Konzept von Schicksal philosophiert wird, waren mir teils zwar etwas zu esoterisch, aber insgesamt war der Film eine sehr bewegende Kinoerfahrung. Mit ruhiger Inszenierung und präzisen Dialogen beschäftigt sich Regiedebütantin Celine Song mit den Erfahrungen koreanischer Einwanderer in Amerika. Nach Oscar-prämierten Filmen wie Minari und Everything Everywhere All at Once scheint die Produktionsfirma A24 mit Filmen über Amerikaner asiatischer Abstammung eine neue Nische gefunden zu haben. Leider hat Past Lives bislang noch keinen deutschen Kinostart, ich kann aber dennoch sehr empfehlen, den Film im Auge zu behalten. Wie auch bei Suzume sollte man jedoch die Taschentücher nicht vergessen.
Vor meiner Heimreise blieb noch Zeit für einen letzten Film. Doch bevor ich mich letztmalig ins wohlige Dunkel eines Kinosaales begab, entschied ich mich, auf dem Weg bei "Five Guys" einzukehren, da ich bisher noch nie in den Genuss eines Burgers der beliebten US-Kette gekommen bin. Ehrlich gesagt war ich etwas enttäuscht. Für 11 € war der Bacon Cheeseburger massiv überteuert und jetzt auch nicht wesentlich besser als andere Ketten-Burger. Also kein "dayum" von mir.
Bei meinem letzten Film habe ich mich wieder für einen entschieden, der in Sundance schon gute Kritiken bekam: Ira Sachs' neuen Film Passages. Ein Film, in dem Franz Rogowski abermals zeigen kann, warum er als einer der aktuell besten deutschen Darsteller gilt. In dem Film spielt er den bisexuellen Regisseur Tomas, dessen Ehe mit Martin (Ben Wishaw) zu zerbrechen droht, nicht zuletzt aufgrund einer Affäre mit Agathe (Adèle Exarchopolous). Man muss schon etwas guten Willen mitbringen, um einem so chaotischen, destruktiven Charakter wie Tomas zu folgen, aber das hervorragende Darstellertrio und die flotte Inszenierung sorgen für ein spannendes Kinoerlebnis. Und am Ende freut es mich auch immer, wenn Regisseure in der Lage sind, ihre Geschichte in schmalen 90 Minuten auszuerzählen.
Nach einem erlebnisreichen Wochenende voller guter Filme setzte ich mich zufrieden in den Fernbus nach Dresden. Meine erste reguläre Berlinale (nach dem Open Air in 2021) hat sich jedenfalls sehr gelohnt. Im Vergleich zu Karlovy Vary, dem Festival was ich schon mehrfach besucht habe, fällt aber negativ auf, dass Berlin deutlich weitläufiger ist und die Locations teils weit auseinander liegen. Während man beim KVIFF viel zu Fuß erlaufen kann, verbringt man bei der Berlinale auch einiges an Zeit in U- und S-Bahn. Und die Kinokarten sind mit 15 € auch ganz schön teuer im Verleich zu den 12 € Tagestarif beim KVIFF (für bis zu 3 Screenings). Naja, vielleicht lasse ich mich nächstes Jahr ja akkreditieren und bin dann als echter Berlinalist am Start.
Tim: Die Jury im Talk oder drei Fankids bei Kristen Stewart
Im Grunde kann man sagen, dass ich vor allem wegen Kristen Stewart zur Vostellungsrunde der internationalen Jury gegangen bin. Die Jury bei der Berlinale setzt sich aus unterschiedlichen Personen aus der Filmwelt zusammen, welche gemeinsam darüber entscheiden, welche Filme bei bestimmten Preisen gewinnen und warum. In diesem Jahr bestand die Jury aus: Golshifteh Farahani (iranisch-französische Schauspielerin), Valeska Grisebach (deutsche Filmemacherin), Radu Jude (rumänischer Filmemacher), Carla Simón (spanische Filmemacherin), Johnnie To (chinesischer Filmemacher aus Hongkong) und Francine Maisler (US-amerikanische Casting-Regisseurin), wobei die letzen beiden zum Talk nicht anwesend waren. Und dann war da natürlich noch die Jury-Präsidentin: Kristen Stewart. Ich wusste nicht, was mich erwartete, als ich zu der Veranstaltung kam (der Titel "You must be joking" sollte sich am Ende als gut Beschreibung entpuppen) aber da Anne und Oliver auch mit von der Partie waren, war die Stimmung von vornherein gut und wie drei aufgeregte Fankids setzten wir uns in die erste Reihe, um einen möglichst guten Blick auf Kristen erhaschen zu können (oder wie Anne es im Chat ausdrückte: um sie anzuschmachten).
Dann ging es auch schon los und die Jury versammelte sich auf der Bühne. Es ist faszinierend zu sehen wie unterschiedlich Menschen aus der selben Branche sein können.
Valeska Grisebach wirkte schon beim auf die Bühne kommen etwas nervös und auch bei ihren Ausführungen war sie immer etwas unsicher, nahm an der Unterhaltung eigentlich kaum teil.
Mit Golshifteh Farahani kam jemand auf die Bühne, die sich im Laufe der Veranstaltung zum Star der Herzen aufgeschwungen hat. Die Schauspielerin und Aktivistin hatte eine ruhige, doch bestimmte Art zu reden und sprach mit ihren Ausführungen zur Bedeutung von Film und der Verknüpfung zum politischen Aktivismus, viele Dinge, die die Zuschauer interessierten. Ihre Art machte es dabei möglich, sich der Themen anzunehmen, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger aufzutreten.
Den professionellsten Eindruck machte für mich Carla Simón. Adrett und dezent gekleidet betrat sie lächelnd die Bühne. Ruhig aber bestimmt brachte sie ihre Ansichten zum Filmemachen vor, äußerte sich nachdrücklich zur Bedeutung von Frauen in der Filmbranche und versuchte, Mut zur Veränderung zu machen.
Als auflockernder Part war Radu Jude perfekt in der Runde. Mit einer guten Portion Selbstironie und Witz sorgte er immer wieder dafür, dass keine zähen Abschnitte aufkamen. Dabei blieb er inhaltlich aber auch immer seriös und machte deutlich, welche Bedeutung Humor für ihn habe um ernste Themen anzugehen. Damit holte er das Gespräch auch immer wieder zu seinem eigentlichen Thema zurück.
Und dann schlussendlich noch Kristen Stewart. Beim reinkommen ging die Performance los: in zerrissenen Jeans, mit Mantel und natürlich Regenbogenarmbinden tauchte sie auf der Bühne auf und fläzte sich auf ihren Stuhl. Vor dem Vorstellungsclip kündigte sie bereits ein paar Twilight-Szenen an und natürlich gab es laute Fanbekundungen. Ihre Art in dem Teil, in dem es um sie und ihre Arbeit geht, erschien mir ein wenig arrogant und überheblich, als hätte sie keinerlei Lust darauf, dass es um sie gehen würde. Doch als der Talk in die Gruppenphase ging, spürte man eine Ausstrahlung, welche zeigte, warum sie dort auf diesen Stuhl sitzt und auch hingehört. Mit Begeisterung sprach sie über das gemeinsame Filmeschauen und das darüber diskutieren, was Filme bewirken können und die ambivalente Rolle solcher Preisverleihungen (zwischen dem Schwachsinn, Kunst zu bewerten und der Notwendigkeit, um gegen den Mainstream zu arbeiten).
Und worum ging es jetzt in der Veranstaltung? Irgendwie um alles und gar nichts. Die Themen reichten von Aktivismus bis Verantwortung und zusammen Filme schauen. Aber darum ging es bei der Sache vielleicht auch gar nicht. Es sollte eine Vorstellung sein, und das ist gelungen. Zu sehen, wie diese unterschiedlichen Charaktere aufeinander prallen, miteinander interagieren und gemeinsam auftreten, war wirklich spannend und auf seine eigene Art inspirierend. Auf fünf unterschiedliche Arten sprühte die Veranstaltung vor Liebe zum Film und die Leidenschaft des Filmemachens dahinter.
Am Ende verließ die Jury die Bühne und um die Performance abzurunden, ist Kristen Stewart die Erste, die geht - ohne nocheinmal einen Blick in den Saal zu werfen.