Auch die USA sind bloß ein Dorf – so oder so ähnlich lässt sich der Freundeskreis um den amerikanischen Regisseur Jim Jarmusch beschreiben, der uns unter anderem in die Motown City Detroit führt. Coolness wird hier in Quadratzentimetern gemessen. Die Großstadt im Mittleren Westen der USA ist neben dem Funk auch für ihre Proto-Punk- und Garage-Rock-Szene bekannt, nicht zuletzt durch das Wirken der legendären MC5, Iggy Pop und seinen Stooges oder Jack Whites prominentem Plattenlabel „Third Man Records“. Zumindest für wahnwitzige Schallplattenjunkies wie mich ist dies eine Nennung wert. Viele dieser Künstler finden sich als ständige Gäste in und um Jarmuschs Filme - ob vor der Kamera oder auch dahinter. Dass dieser Freundeskreis vor allem aus Musikschaffenden besteht, ist wenig verwunderlich, schaut man einmal auf Jarmuschs sonstige Tätigkeiten, etwa den Dreh diverser Musikvideos, zum Beispiel für Neil Young, Tom Waits, die Talking Heads oder Jack Whites Raconteurs.
Zusammen mit Jozef van Wissem und Carter Logan gründete er 2009 die Noiserock-Band SQÜRL in New York, mit der er auch zu diversen Filmen eigenen Soundtrack beisteuerte (etwa zu Only Lovers Left Alive – ich würde illegale Dinge tun, um ein Vinyl des Albums zu besitzen). Ein ständiges Geben und Nehmen also. Und so komponierte SQÜRL auch den Score zum neuen Film The Dead Don't Die, der am 13. Juni in deutschen Kinos startet. Jarmuschs Hingabe an die Musik ist jedenfalls in jedem seiner Filme zu spüren. Nach den Worten seines Gönners und Kollegen Wim Wenders schon die halbe Miete eines guten Regisseurs.
Doch nicht nur die Musik spielt eine ständige Hauptrolle. Viele der Filme sind Liebeserklärungen an die Kunst. Ob an den Dichter William Carlos Williams in Paterson, an Elvis in Mystery Train, oder ein nostalgischer Blick auf Detroit und das Musikmachen "back in the days" in Only Lovers Left Alive. Die Filme machen jedenfalls Bock, sich mit dem künstlerischen Sujet zu beschäftigen. Jarmusch hat schon immer Kunst geschaffen, und wie so viele Kolleg*innen führte sein Weg ihn nur über Umwege zum Film. Aus seiner Heimatstadt Akron zog es ihn zum Literaturstudium in die einzig wahre amerikanische Kunstmetropole der 1970er Jahre. Jim Jarmusch steht am Keyboard einer New Yorker Wave- und Punkband und lernt den No-Wave-Saxophonisten John Lurie kennen - der Beginn einer produktiven Zusammenarbeit. Für einen Auslandsaufenthalt geht er nach Paris und bleibt dort eine Weile, besucht keine Lehrveranstaltungen, jedoch die Cinémathèque. (Film in der SLUB anstatt Seminar? Auch mir schon so passiert.)
Die Stadt Detroit inkorporiert aber vielleicht am deutlichsten jene Eigenheit der Jarmusch’schen Bilderwelten, in denen der Sonderling dem Leben abhanden kommt, in der Kunst aufgeht, seinem ganz persönlichen amerikanischen Traum nachstrebt. Vielleicht ist es genau diese naive Verklärung in das Urmenschliche in jeder noch so exzentrischen Figur, die die leisen Töne so spannend machen.
Viele der Figuren sehen mit dem Blick eines Fremden auf den amerikanischen Traum und enttarnen ihn als fehlgeleitet. Die Hauptfiguren sind genötigt, sich ihren falschen Hoffnungen zu stellen und in der Begegnung mit Unbekannten, die ihre Auffassungen von außen betrachten, ihre Ansichten langsam zu desillusionieren und anzuzweifeln. Diese Multiperspektivität führt zu absurden, melancholischen, mitunter tragikomischen Situationen, gerade durch die vielen Missverständnisse durch Kommunikationsfehler. Noch eine Auffälligkeit auf der Figurenebene ist, dass fast alle der Filme drei Protagonisten haben. Dieser Beziehungs-Trias bringt Charaktere zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber dennoch irgendwie magisch miteinander funktionieren.
Die große Negativität – In seinem stilprägenden Erstling kommt noch alles aus einer Hand. Sowohl Screenplay, Regie, Komposition als auch Schnitt und Produktion sind für Permanent Vacation (1980) in Jarmuschs Eigenregie entstanden. Der Protagonist, "No-Future" in Personifikation, irrt in fast meditativer Verklärung durch die Straßen von New York und trifft dabei auf alle nur möglichen Arten von Leuten. Dabei verzichtet der Film auffallend auf etwas ganz Naheliegendes: Punk in der Attitüde, der Hauptfigur, im Setting - jedoch in keinster Weise auf der Tonspur.
Hypnotisierend wie "I Put A Spell On You": Eigentlich als ein 30-minütiger Kurzfilm aus Wim Wenders Filmresten begonnen, brachte Stranger than Paradise (1984), Jarmuschs zweiter Langspielfilm, die große Stille und Langsamkeit auf die Leinwand. Wenn man die Handlung nacherzählen müsste, wäre das schwierig - was in Erinnerung bleibt, ist die radikale Reduktion filmischer Elemente. Das Set ist karg und farblos, die Beziehungen emotionslos und leer, eine Filmgrammatik in Form einer Montage nicht vorhanden. Ein Film, der entschleunigend wirkt - eine der vielen Eigenschaften, die ich an Jarmuschs Regie so sehr schätze, besonders in einer Zeit, in der wir das Zuschauen, Zuhören, Hinhören, Aushalten und Aufmerksamsein neu lernen müssen.
Ganz anders als im klassischen Gefängnisfilm schafft es Roberto Benigni in Down By Law (1986), seine Mitinsassen mit seinem naiven Optimismus und Zutrauen zu knacken. John Lurie und Tom Waits als dubiose Superschurken lassen den Film Noir einer vergangenen Hollywood-Ära wieder aufleben. Das ungleiche Trio wird erst vollkommen durch Benignis Charakter eines Italieners, der nach völlig anderen Spiel- und Sprachregeln spielt.
Ein Hotel, drei Geschichten, ein Schuss: Mystery Train (1989) steht irgendwo zwischen Romanze, Fantasy und Thriller und orientiert sich am Vorbild italienischer Episodenfilme und japanischer Geistergeschichten. Drei verschiedene Leben, die nicht aufeinander treffen, lediglich im selben Hotel verweilen, zur selben Zeit den selben Elvis-Song hören, und einen Schuss vernehmen: Zwei davon nur akustisch, einer aktiv beteiligt. Keine dramaturgische Pointe, nur ein Kurzschluss. Alle Akteure sind Fremde, für die das popkulturell aufgeladene Memphis von ihren eigenen Vorstellungen geprägt ist, eine Illusion bildet. Der Pistolenschuss vermag das Erwachen aus diesem Traum zu veranlassen.
Die Hauptakteure einer jeden Episode in Night on Earth (1991) sind neben dem vielfältigen schauspielerischen Aufgebot (Winona Ryder, Armin Mueller-Stahl) vor allem die Großstädte. Jede Episode vermittelt etwas von der Kultur, in der sie spielt: Ob das mürrisch-atmosphärische Helsinki, ein religiös geprägtes, humorvolles Rom oder die Kulturdiversität und Aggressivität von New York - doch jedesmal erspähen wir das bunte Treiben da draußen ausschließlich aus der geschützten Innenperspektive eines Taxis.
Dead Man (1995) wiederum spiegelt Jarmuschs Liebe zur Lyrik wieder, vor allem indem die Sprache des stoischen 'Nobody' stark abstrahiert, rätselhaft und poetisch ist. Der Indie-Western steht etwas für sich, ist er doch sein einziger Film, der nicht in der Gegenwart spielt und relativ linear erzählt ist. Dead Man kann man sogar lyrisch lesen - der formale Handlungsaufbau zweier Gänge durch die Stadt am Anfang und Ende sei ein umschließender Reim, die Reisesequenzen zwischendurch dienen als Refrain, und Nobodys verdichtete Äußerungen sind wahrlich poetisch. Die Atmosphäre wird verdichtet durch Neil Youngs statischen Soundtrack, und Iggy Pop als alte Frau ist zweifellos ein "Gedicht".
Ghost Dog - Der Weg des Samurai (1999): Ein spiritueller Film, der das gegenseitige Nicht-Verstehen thematisiert, zum einen durch Sprachbarrieren, zum anderen durch ein von der westlichen Welt divergierendes Glaubensmodell. Forest Whittaker wurde die Rolle des exzentrischen Taubenfreundes, der nach einer Zen-Philosophie der 1850er Jahre lebt und der Welt fremd geworden ist, tatsächlich auf den Leib geschrieben. Jarmusch hatte nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, und ihn getroffen. Absurd, manchmal tragikomisch inszeniert, wird uns ein wesentliches Gefühl des postmodernen Kinos vermittelt: Die Figuren sind genau wie wir mit Dingen konfrontiert, die sie nicht verstehen.
Year of the Horse (1997): Neil zahlt, Jim filmt: Der vorherigen Zusammenarbeit an Dead Man, zu dem Neil Young den Soundtrack beisteuerte, entspringt das Vorhaben, ein Musikvideo für Neil Young zu drehen. Entstanden ist weniger eine Doku als vielmehr ein Konzertfilm über Young, der den Dreh bezahlte und Jarmusch dabei einfach mal machen ließ. Gute Entscheidung.
Coffee & Cigarettes (2003) ist eine Ansammlung kurzweiliger Episoden, in denen sich die vertrauten Gesichter nur so häufen: Roberto Benigni trifft Steven Wright, Iggy Pop auf Tom Waits, und Jack erklärt Meg White seinen selbstgeklöppelten Tesla-Transformator. Was ist schon groß belangloser als ein paar legale Drogen unter Freunden? Dabei sind die Dialoge so absurd (Steven Wright träumt schneller, wenn er vor dem Schlafengehen Kaffee konsumiert) wie realistisch inszeniert (wer weiß schon genau, wie viel davon gespielt ist), austauschbar, missverständlich, unbeholfen, oder einfach extrem amüsant.
Broken Flowers (2005), eine Geschichte so deprimierend wie Bill Murrays selbstironischer Blick: Don Johnston erfährt in einem Brief, verfasst mit einer Schreibmaschine (ein MacGuffin?), dass er einen Sohn habe. Nur durch Zutun seines Nachbars begibt er sich auf die Suche nach der Schreibmaschinenbesitzerin, die er unter seinen zahlreichen Verflossenen zu finden hofft. Vom Plot fühle ich mich anfangs sogar irgendwie an The Big Lebowski erinnert ... Murrays wirkungsdominierendes Mimenspiel und die sich wiederholenden Reisesequenzen, die die Erlebnisse an den verschiedenen Orten Revue passieren lassen, machen Jarmuschs Handschrift dann aber deutlich.
Mit The Limits of Control (2009) ist Jarmusch wieder einmal das Spiel mit den Genre-Erwartungen gelungen. Handelt es sich um einen Thriller? Gar einen Anti-Thriller? Wird überhaupt irgendetwas erzählt? Nur soviel ist sicher: Der Filmtitel geht auf einen Essay des Beat-Poeten William S. Burroughs zurück, der zu Jarmuschs Lieblingslyrikern zählt. Der Großteil der Dialoge entstand erst während der Dreharbeiten, eine Parallele zur Arbeit am Set von Wim Wenders.
Only Lovers Left Alive (2013) ist vielleicht einer der Filme, in denen die Stadt als heimlicher Protagonist am deutlichsten hervortritt. Sowohl Detroit als auch die Hauptakteure sind gezeichnet von einer Dekadenz, die die Heimatstadt von Jack White und Francis Ford Coppola seit der Deindustrialisierung und endgültigen Insolvenz 2013 heimgesucht hat. Im Kontrast dazu steht die geheimnisvolle Gotik des Settings in Tanger. Für mich ist die Vampirromanze ein Highlight, nicht zuletzt wegen des fatal guten, handlungstragenden Soundtracks von SQÜRL. Auch hier möchte man vor Freude aufschreien, ist doch die Besetzung erneut brillant gelungen: Tom Hiddleston spielt Adam an der Seite des schottischen Gesamtkunstwerks Tilda Swinton, und John Hurt erweckt Christopher Marlowe zum Leben.
Drei Jahre später erscheint Paterson (2016). Man möchte auf den ersten Blick meinen, es handele sich um die Liebes- und Lebensgeschichte eines Poesie-verliebten Busfahrers. Deutet man die Zeichen jedoch wie meine Kinobegleitung und ich, könnte man den Film auch als die Geschichte eines ehemaligen Soldaten mit posttraumatischer Belastungsstörung lesen und damit womöglich in eine ganz andere Bedeutungsebene heben.
Gimme Danger (2016) muss als eine Doku über einen Freund eigentlich nicht weiter kommentiert werden. Wenn Jim Osterberg (aka Iggy Pop), die wohl exzentrischste Figur des amerikanischen Punkrock, zum Schlag aus seiner Jugend ausholt, dann hört man einfach gern zu! Man nehme einen Stooges-Fan und eine unwissende Begleitung, gehe in den Film, und verlasse das Kino mit zwei Stooges-Fans. Jaja.
Und nun also The Dead Don’t Die (2019). Der Titel klingt eher nach einem unveröffentlichten Misfits-Album, der Trailer scheint etwas zu frohmütig für das Gütesiegel "Jarmusch". Nicht nur wegen der Besetzung von Bill Murray hoffe ich auf ein paar Zombieland-Vibes. Was auch immer es wird, ab 13.06. dürfen wir darauf gespannt sein, was uns in Centerville erwartet. Wir treffen auf alte Bekannte: Tilda Swinton, Eszter Bálint, Adam Driver, Tom Waits, Steve Buscemi und ... the man, the legend - Bill Murray. Warum eigentlich? Kann man da jetzt schon von einem Personen-Hype sprechen? Bill Murray verkörpert wohl genau das, was man unter dem Begriff "Kultfigur" verstehen mag. Er ist der Inbegriff der Sympathie, der nette Typ von nebenan, und vor allem beherrscht er sein Handwerk außerordentlich gut. Als Schauspieler liegen Murray besonders die leisen Töne, die stillen Momente und allegorischen Charaktere. Diese Momente, in denen eine scheinbar naive Figur die Welt durch Hinterfragung auf den Kopf stellt und verbessern kann. Vielleicht einfach der perfekte Anti-Zombie.