Bei meinem Beitrag zum KiK-Programm für dieses Semester handelt es sich um eine meiner größten Kinoüberraschungen aus dem vergangenen Jahr. Assassination Nation war einer dieser Sneak-Preview-Filme, über die ich im Vorhinein nichts wusste und mich dann schwer überzeugt haben. Für diese kleine Rezension habe ich ihn ein zweites Mal gesehen und ich muss sagen, dass er erneut funktioniert hat.

Hier erstmal nur der Teaser, um die maximale Spoiler-Freiheit zu bieten.

Warum mich der Film über "Mobbing, Missbrauch, Klassismus, Tod, Trinken, Drogenkonsum, sozialen Inhalt, toxische Männlichkeit, Homophobie, Transphobie, Waffen, Nationalismus, Rassismus, Entführung, männliche Perspektive, Riesenfrösche, Sexismus, Fluchen, Folter, Gewalt, Blut, Waffen, zerbrechliche männliche Egos", überzeugt, versuche ich hier in den nächsten Zeilen mal darzustellen.

Weil es ja viele Menschen gibt, die empfindlich auf Spoiler reagieren, halte ich mich zum Inhalt sehr kurz.
Lily (Odessa Young), Em (Abra), Bex (Hari Nef) und Sarah (Suki Waterhouse) wachsen im idyllischen 17.000-Einwohner-Vorort Salem auf und zwar, wie man es sich in Zeiten von YouTube, Facebook und Instagram halt vorstellt... "Sex, Drugs and Rock‘n‘Roll" sind wirklich keine neuen Erfindungen, allerdings finden sie mittlerweile entweder im Netz statt oder Nachweise davon landen dort, wenn auch nicht immer öffentlich. In diesem Punkt ist Assassination Nation schon mal ehrlicher und zeitgenössischer als so manch andere High-School-Teenie-Filme. Eines Tages werden sämtliche Endgeräte der Einwohner Salems gehackt und die vielen Geheimnisse veröffentlicht. Die Vorstadtidylle versinkt im Chaos. Wie sich herausstellt, sind es nicht nur die Teenies, die den hohen moralischen Ansprüchen der Gesellschaft nicht gerecht werden, doch ausgerechnet für die vier Protagonistinnen entwickelt es sich zum Überlebenskampf.

Lily (Odessa Young), Sarah (Suki Waterhouse), Em (Abra) und Bex (Hari Nef) ©Universum Film/24 Bilder

Der Film überzeugt dank seiner vier unheimlich starken Schauspielerinnen. Odessa Young spielt eine herausragende Lily und es hat mich sehr überrascht im Nachhinein zu erfahren, dass Hari Nef und Abra beide in Assassination Nation ihr Langspielfilmdebut feierten. Die Chemie stimmt in allen Szenen. Berichten nach hatten die Schauspielerinnen auch viel Freiraum zu improvisieren. Vermutlich hätten wir den traumhaften Satz "You're a bitch; I'm a feminist" von Hari Nef, die ihre Rolle der Transfrau Bex auch aus ihrer Erfahrung als Transfrau spielen konnte (in Hollywood ja alles andere als selbstverständlich), verpasst.

Bex und Em, gespielt von Hari Nef und Abra, die beide in ihrer ersten Langspielfilmrolle überzeugen. ©Universum Film/24 Bilder

Zu all dem kommt eine unheimlich starke visuelle Inszenierung von Marcell Rév, die ihren Höhepunkt in einem One-Take erreicht, bei dem ich  bis zuletzt dachte, es sei ein typischer Take mit versteckten Schnitten. Nach Aussage des Filmteams stecken darin aber sechs Wochen Konzeption und ein zehnstündiger Filmtag.

Beim Anblick des kleinen Trigger-Warnings im Teaser, der mehr oder weniger die ersten zwei Minuten des Films abbildet (soviel Spoiler sollte erlaubt sein), bekommt man schnell das Gefühl, dass der Film eventuell etwas zu viel möchte. Dieses Gefühl ist absolut berechtigt und tatsächlich schafft es der Film nicht die vielen aufgegriffenen Probleme von vorne bis hinten zu behandeln, geschweige denn eine Lösung anzubieten. Dieser Umstand wird jedoch durch einen rigorosen Schnitt eingefangen (die erste Fassung des Films hatte wohl etwa vier Stunden). Mit der nun veröffentlichten Fassung (118 min.)  verfehlt Assassination Nation glücklicherweise sein ursprüngliches Ziel nicht. Der Film nimmt sich die vielen zeitgenössischen Probleme exemplarisch heraus und bettet sie in ein Szenario, was sich im allgemeinen menschlichen Zusammenleben schon länger beobachten lässt...

Der Name für das fiktive Vorstadt-Idyll ist keinesfalls zufällig gewählt. Es existiert ein Salem in Massachusetts, das für einen Hexenprozess Ende des 17. Jahrhunderts berühmt wurde, bei dem letztendlich 200 Menschen verdächtigt und 20 Menschen hingerichtet wurden. Hexenprozesse sind insgesamt ein spannendes Phänomen, wie auch schon die Herren von Monty Python bemerkten.

Ein zeitloser Klassiker Monty Pythons "Die Ritter der Kokosnuß"

Der doch sehr überzogene Clip beinhaltet tatsächlich historische Fakten. Man darf die Hexenprozesse keineswegs vom heutigen Rechtsverständnis aus betrachten. Vormoderne Prozesse basierten auf dem gesprochenen Wort, also der Beschuldigung, der Verteidigung oder dem Geständnis. Zudem kam, dass in den puritanischen USA die absolute Rechtschaffenheit zum Ziel gesetzt wurde und Frauen eine höhere Anfälligkeit für das Wirken Satans unterstellt wurde. Dies ließ Hexenprozesse gerade denjenigen zum Verhängnis werden, die nicht dem Ideal der guten, gehorsamen Ehefrau entsprachen, so eben auch in einer Massenhysterie in Salem (Weitere Infos dazu). Ähnlich ergeht es den Protagonistinnen in Assassination Nation.

Sam Levinson, Drehbuchautor und Regisseur des Films, wollte seine eigene Angst bzw. sein Unbehagen vor gesellschaftlichen Entwicklungen zum Ausdruck bringen. Die Castings fanden dann etwa um die Zeit der Präsidentschaftswahl 2016 statt, bspw. wurde Hari Nef am Tag nach der US-Wahl gecastet. Levison selbst sagt, dass sich die Satire, die er mit Assassination Nation drehen wollte, mehr und mehr zur Realität entwickelte. Warum er sich entschieden hat, die Geschichte aus der Sicht von vier jungen Protagonistinnen zu schreiben, liegt nahe. Man muss nicht lange suchen, um Frauenfeindlichkeit im Internet zu finden, wie Palina Rojinski und Klaas Heufer-Umlauf immerhin bei einem privaten Unterhaltungssender aufzeigen:

Eine unterhaltsame Aktion, was hier allerdings einfach nur als "pervers" abgetan wird, ist ein tiefgreifendes gesellschaftliches Problem.

Die alltäglichen verbalen Übergriffe im Netz wirken allerdings noch harmlos gegenüber den frauenfeindlichen Foren, in denen Gewaltfantasien gegenüber Frauen zelebriert werden. So war das Manifest von Anders Breivik gespickt von hasserfülltem Antifeminismus (Weitere Infos dazu). Ebenso bei dem Mann, der im April 2018 mit einem Kleinbus in Menschenmengen in Toronto gerast ist, mit dem Ziel möglichst viele Frauen umzubringen, in der sogenannten Incel-Community (Incel steht dabei kurz für "involuntary celibates", also unfreiwillig Enthaltsame - Weitere Infos dazu). Besonders zynisch vor dem Hintergrund des Film-Plots ist, dass erst vor wenigen Tagen Bella Thorne, ebenfalls im Cast von Assassination Nation, bekanntgab, dass auch ihre Daten gehackt wurden. Es folgten Erpressungen mit der Androhung, freizügige Selfies von ihr zu veröffentlichen. Genau diesen eben sehr realen Phänomenen sagen die vier Protagonistinnen den Kampf an.

©Universum Film/24 Bilder

Die Kritiken von Assassination Nation sind insgesamt eher durchwachsen. Vielen Kritiker*innen stößt es unangenehm auf, dass der Film die Probleme eben nur andeutet, sie aber teilweise offen stehen lässt. Ich bin als Filmkonsument ein großer Freund davon, Freiheiten zu haben, mich zum Film auch positionieren zu können. Ebenso zentral ist in meinen Augen auch das Verhältnis zwischen Anspruch und Realität und darin ist Assassination Nation für mich ein Volltreffer. Wer eine intellektuelle Auseinandersetzung mit Feminismus und den anderen Trigger-Themen sucht, wird nicht zufrieden gestellt. Wer einen Film sucht, der die genannten Themen anspricht und die Frage des Zusammenlebens einbettet, dabei auch noch unheimlich unterhaltsam ist, ohne groß belehren zu wollen, sollte sich den Film unbedingt anschauen, natürlich bei uns im Kino im Kasten.

20. Juni 2019   |   20:30 Uhr   |   deutsch
25. Juni 2019   |   20:30 Uhr   |   Original mit Untertitel