„But hey – Who’s on trial?”
Zugegebenermaßen wäre Michael Jacksons „Thriller“ die offensichtliche Wahl gewesen. Aber wer dieser Serie bisher aufmerksam gefolgt ist wird schon sämtliche Hoffnung auf Offensichtlichkeiten (und tiefergreifende Erkenntnisse) begraben haben. Stattdessen nehmen wir uns zu Halloween ein Musikvideo vor, das einen zweifelhaften Ruhm auf dem damals noch jungen YouTube erlangte und mehr als 15 Jahre später noch unschuldigen Opfern durch die Schrecken der Sidebar angedreht wird. Dem Songtitel wird es dabei mehr als gerecht.
Vor dem Video
Unsere Geschichte beginnt schon mit einem Horrorszenario: Philosophiestudenten gründen eine Band. Gitarrist Daniel Kessler spannt Kommilitonen Carlos Dengler als Bassisten und Greg Drudy als Drummer ein, erinnert sich noch an einen alten Homie namens Paul Banks, der hervorragend ans Mikro passt, und fertig ist die Build-it-yourself-Band. Na ja, so gut wie. Zwischen der ursprünglichen Gründung 1997 und dem ersten Erfolg liegen gut 5 Jahre, in denen Drudy in wohlgehüteter Pete Best-Tradition gegen Sam Fogarino ausgetauscht wird. Die Clubmeute findet schnell Gefallen an dem melancholischen Post-Punk-Indiesound und dem eher zugeknöpften Quartett. Das Problem ist nur, dass die Gruppe gefühlt alle zwei Wochen den Namen wechselt, sodass sich keine beständige Fanbase bilden kann. Und auch die steten Vergleiche mit Joy Division sind eher hinderlich als hilfreich. Klar, welche moderne Band des Genres verdankt der tragischen Gruppierung aus Manchester nicht viel, aber persönlich sehen sich Interpol eher in Nachfolge von Siouxsie and the Banshees und Echo and the Bunnymen. Man könnte sie auch als „R.E.M., die niemals ’Shiny Happy People’ machen würden” bezeichnen. (Nicht, dass die richtigen R.E.M. warme Gefühle gegenüber „Shiny Happy People“ hätten).
Wie dem auch sei, 2001 klappt es endlich mit dem Plattenvertrag beim Label Matador. Die ebenfalls aus New York stammende Band The Strokes hat mit Is This It den Überraschungshit des Jahres abgeliefert und der Indieszene neues Leben eingehaucht, und Matador wittert berechenbare Einnahmen. 2002 bringen Interpol diese mit ihrem Debütalbum Turn On the Bright Lights nach Hause. Die Kritiken fallen euphorisch aus, das Publikum zieht schüchtern nach.
Flash-forward 2005: Das zweite Album Antics erscheint und Interpol begibt sich auf Promo-Tour. Sie wirken mancherorts noch etwas deplatziert, wie etwa auf dem Glastonbury-Festival, das traditionell eine schlammige Angelegenheit ist und dieses Jahr von Regenböen ertränkt wird. Da staksen Banks, Kessler, Dangler und Fogarino in ihren schicken Anzügen eher zurückhaltend zur Bühne, aber sobald sie auf dieser stehen, gehört das Publikum ihnen. Das ist der Interpol-Effekt: Wenig Trara, aber mit Stil. Mit diesem einfachen Erfolgsrezept schaffen sie es, die gefürchtete Ablehnung des Zweitlingwerkes zu vermeiden. Aber so eine Tour verlangt auch einiges ab, und die Band ist über jede Arbeit, die ihnen abgenommen wird, dankbar. Um so besser, dass ein Künstler namens Charlie White bei ihnen durchklingelt: Er habe zwar noch nie ein Musikvideo gedreht, höre die neue Single „Evil“ aber in Dauerschleife und habe das perfekte Konzept. Die Band und das Label müsse das Ganze nur finanzieren und absegnen, aber nicht selbst zum Dreh antanzen. White schickt ihnen ein absolut durchgeplantes Treatment und Bilder von dem Star des Videos: Einer Animatronics-Puppe.
Das Video
Szenen eines Autounfalls. Ein Opfer liegt bereits auf einer Trage und wird beatmet, ein Paar im Hintergrund, die Frau schluchzt, ihr Mann stützt sie. Man sieht Rettungskräfte hin- und herschwirren. Das Ganze findet offensichtlich auf Soundstage statt, Raucheffekte verweisen auf einen desaströsen Crash. Banks Stimme ertönt („Rosemary – Heaven restores you in life“) und wir erhaschen einen ersten Blick auf den Protagonisten des Videos. Mit Einsetzen des Schlagzeugs wird näher an ihn herangezoomt: Eine Art Homunculus, ein offensichtlich künstliches Kerlchen, das die Fangemeinde seither „Norman“ nennt. Wir schließen uns dabei einfach mal an. Norman sieht auf sehr vielen Ebenen beunruhigend aus: Seine Haut ist ledrig, gräulich und hat im Gesicht zwei blutige Kratzer. Seine Gestalt ist verstörend hager, dafür sind seine Augen um so quellender und sein zahnreicher Mund um so breiter. Eine Nase und Lippen sind nahezu nonexistent. Er fuchtelt mit den Armen und Beinen, während er den Song performt. Der Schnitt folgt im Wechsel von Halbtotale und Nahaufnahme dem Beat des Schlagzeugs, wobei man sich als Zuschauer:in schmerzlich wünscht, die Kamera würde nicht so nah an Norman heranzoomen. Das Rettungspersonal hat da Gott sei Dank weniger Berührungsängste – die Puppe wird erstversorgt und anschließend in einem Rettungswagen auf eine Trage geschnallt. Als ihm das Shirt aufgeschnitten wird, erwartet uns der nächste Schock: Normans ausgemergelter Torso. Unter klinischer Beleuchtung und einer Beatmungsmaske singt dieser unbehelligt weiter.
Tapetenwechsel, wir sind mit Norman im Krankenhaus (und das ist sogar echt). Er wird in den OP gerollt, offenbar stört sich hier niemand daran, dass er nebenbei ein Lied trällert. Auf widerlich authentische Art und Weise wird ihm ein Katheter gelegt, von der folgenden Operation sehen wir glücklicherweise nicht viel. Das medizinische Team hat bereits den Saal verlassen, als Norman sich erhebt und Mitten auf seiner Liege und zwischen den Leuchten ein Tänzchen aufführt, das Ian Curtis wie einen gemäßigten Tänzer wirken lässt. Aber wie jeder Song endet „Evil“ auch einmal. Um Norman gehen die Lichter aus. Betrübt setzt er sich hin und schaut zu Boden. Zögerlich wippt er noch mit einem Bein. Niemand kümmert sich mehr um ihn.
Was ist denn nun dran an dem Video?
Einfache Frage, einfache Antwort: Norman. Mal abgesehen davon, dass sein Aussehen per se recht einschüchternd ist, merkt man die minutiöse Arbeit, die in ihn gesteckt wurde, in jeder Sekunde des Clips. Normans Mund ist darauf programmiert, den Song einigermaßen passend nachzusingen. Für die Feinheiten in Mimik und Gestik mussten sechs Puppenspieler:innen bemüht werden, die danach digital wieder entfernt wurden. Und hier handelte es sich nicht um blutige Anfänger: Das Team hatte schon für den Film Hellboy an den Special-Effects gearbeitet.
Der finale Gruselfaktor Normans liegt jedoch in einem uralten Horrorprinzip – dem sogenannten „Unheimlichen“ von Siegmund Freund. „Unheimlich“ lässt sich hierbei auf etwas zurückführen, was uns bekannt, gar vertraut vorkommt und doch gleicht sich das, was wir sehen, nicht mit dem, was wir kennen. Es sind die kleinen Unterschiede. In vielen Horrofilmen werden für einen Effekt des „Unheimlichen“ menschlichen Gestalten menschensferne Züge verliehen (unser Hausmaskottchen Nosferatu ist da ein gutes Beispiel). Bei Norman ist es interessanterweise hauptsächlich anders herum; Er ist sehr offensichtlich eine Puppe mit ein paar menschlichen Zügen. Niemand würde ihn mit den menschlichen Statist:innen im Video verwechseln. Aber es gibt diese Momente, herausstechend beispielsweise 2:30. Eine Krankenschwester streicht Norman über den Kopf und seine Augen bewegen sich, als würde er diesen Moment wirklich erleben, als wäre hinter den Kunstglubschern eine Seele zuhause. Horror bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen Furcht und Ekel, Selbstreflektion und Anziehung. So abgeneigt man seiner Erscheinung gegenüber ist, so unmöglich ist es doch, nicht mit diesem anorganischen Wesen zu fühlen.
Einen indirekten Beitrag schafft auch, wie fast immer, der Song selbst. Paul Banks melodischer Bariton will nicht so recht zu einer maximal schulterhohen Puppe passen. Diese Widersprüchlichkeit zwischen dem, was wir sehen und dem, was wir hören, wirkt noch einmal zusätzlich beunruhigend - und der Text verspricht mehr Unfeines. Von „cell mate" ist da die Rede, ein „trial" steht auch in Aussicht. Und wer könnte die am Anfang angesprochene Rosemary sein?
Natürlich gibt eine Band wie Interpol, formiert aus lauter prätentiösen Künstlerseelen, keine eindeutigen Antworten, wenn es um ihre Songtexte geht. Laut ihrer Aussage schreiben sie all ihre Songtexte gemeinsam und zu gleichen Anteilen. Lyrisch scheint man sich dort hin und wieder bei Kurt Cobain zu bedienen, der in dieser Hinsicht auf der Kreuzung zwischen Genie und Nonsens dauercampierte. Soll heißen: Vermutlich weiß nicht mal die Band selbst hundertprozentig, was die Meisten ihrer Songtexte bedeuten.
Nichtsdestotrotz lässt ein wahrer Fan das Mutmaßen nicht. Und die Fangemeinde ist zum relativen Konsens gelangt, dass nicht etwa die Protagonistin aus dem Film Rosemary's Baby gemeint ist (am 03. und 08.11. im KiK, schaut vorbei!), sondern Rosemary West. Für die glücklichen Unwissenden eine möglichst schonende Zusammenfassung: Frederick und Rosemary West waren ein britisches Ehepaar, das zwischen 1967 und 1987 mindestens 12 junge Frauen vergewaltigten und ermordeten, teils zusammen, teils getrennt. Rosemary ist seit 1995 lebenslänglich inhaftiert, Frederick West nahm sich im selben Jahr das Leben. Sein Abschiedsbrief zergeht sich in Liebesschwüren an die Frau, die ihn vor Gericht als Alleintäter darstellte. Alles in allem mit „evil" noch recht wohlwollend umschrieben.
Glauben wir also der Faninterpretion, dann ist „Evil" eine Introspektive aus der Sicht von Frederick West. Hier finden wir Nostalgie („Make revisions to a dream while you wait in the van"), Romantisierung („You're coming with me through the aging, the fearing, the strife") und schließlich so etwas wie Reue („I spent a life span with no cell mate"). All das sind feste Teile der menschlichen Kondition. Aber so tief möchte man eigentlich nie in die Gedankenwelt eines solchen Unmenschen eintauchen, und man möchte das Ganze erst recht nicht von einer gruseligen, auf Krankenbetten stepptanzenden Elektropuppe vorgetragen bekommen.
Aber das ist der vollendete Appeal von „Evil" - Song und Musikvideo bringen uns ans Unkomfortables heran, dorthin, wo wir uns selbst erkennen.
Fakten für die nächste Gartenparty
· In einem Yahoo!-Music-Ranking von 2005 belegte das Video zu „Evil” den 25. Platz der 25 gruseligsten Musikvideos. Damit liegt es zwei Plätze hinter „White Wedding” von Billy Idol und ich könnte mich darüber aufregen, aber im Jahr 2022 auf Yahoo! zu schimpfen ist wie Reiswaffeln essen: Unbefriedigend, luftleer und letztendlich zwecklos.
· Die Inspiration zu Normans Look bleibt ein Rätsel. Viele Fans merkten bereits eine frappierende Ähnlichkeit mit Joy Division-Sänger Ian Curtis an, Charlie White selbst beteuerte im Interview mit MTV, dass die Optik eine Mischung aus den Interpol-Bandmitgliedern und dem Stereotypen Interpol-Fan sei: Dünn, bleich, dunkles Haar, jungenhaft. Zumindest die Moves könnte Norman sich von Daniel Kesslers Bühnenhabitus abgeschaut haben.
· Und wo wir von Norman reden: Da die Band selbst beim Dreh nicht dabei war und die Crew ihn wohl nicht zuhause auf dem Sofa haben wollte, ging der Gute irgendwie verschütt. Über Jahre blieb die Animatronics-Puppe verschollen. 2019 verkündete der Künstler John Kolbeck, ihn bei einer Auktion ersteigert zu haben. Leider war Norman durch jahrelange Vernachlässigung stark heruntergewirtschaftet, seit diesem Jahr ist er aber wieder so gut wie neu – dank Kolbecks liebevoller, auf YouTube dokumentierter Restauration.
· Wenn Frontmann Paul Banks sich nicht gerade Interpol widmet, geht er anscheinend gerne surfen, spielt Schach mit Wu-Tang-Clan-Legende RZA oder twittert über Filme. Er sei an dieser Stelle herzlichst ins KiK eingeladen. Wir mögen Filmnerds auch dann, wenn sie so viel mehr Geld verdienen als wir.
Großer Dank gilt meinem Kollegen Leo Schimmank, der diesen Artikel gegengelesen und abgenickt hat. Zu seinen eigenen, großartigen Artikeln gelangen Sie hier.