“If you’ll be my bodyguard, I can be your long-lost pal. I can call you Betty, and Betty, when you call me- you can call me Al.”
Beats and Screens ist eine Serie, in der wir uns ikonische Musikvideos anschauen und uns die Frage stellen, was sie so verdammt gut macht.
Es ist seit Jahren die Arbeitshypothese meiner Mutter in der Küche, dass die einfachsten Gerichte immer noch die Besten sind. Selbiges würde ich für Musikvideos deklarieren. Klar, es gibt ikonische Musikvideos mit ausgebuffter Storyline, denkwürdigen visuellen Effekten, stilgebenden Outfits und Wahnsinns-Choreos.
Und es gibt „You Can Call Me Al” von Paul Simon.
Manchmal braucht man nicht mehr als zwei Leute, Blazer, Sneaker, Musikinstrumente und einen leeren Raum. Und damit könnte ich diesen Artikel schon wieder beenden und alle nach Hause schicken, aber das ist tatsächlich nicht meine ganze Arbeitshypothese. Denn ich habe irgendwann herausgefunden, dass meine Mutter mir auch nur die halbe Wahrheit gesagt hat. Hinter den einfachsten Gerichten steht meistens reichlich Innovation gepaart mit Glück, Timing und echt bestechlichen Zutaten, die nur sehr unkompliziert daherkommen. Und was soll ich sagen, unsere Rigatoni mit Tomatensauce und Pfannenkäse sind heute Chevy Chase, Lorne Michaels und Saturday Night Life. Enjoy.
Vor dem Video
Paul Simon ist vermutlich nach wie vor am Besten als Teil des Duos Simon and Garfunkel („The Sound of Silence“, „Mrs. Robinson“, „The Boxer“) bekannt. Wir schreiben das Jahr 1986. Nach dem finalen Album „Bridge Over Troubled Water“ führen Simon und Garfunkel eine musikalische On-Off-Beziehung, die prinzipiell bis heute anhält. Paul Simon arbeitet emsig an seinem siebten (!) Soloalbum namens „Graceland“. Denn er hat einiges loszuwerden: Seine Freundschaft mit Art Garfunkel liegt mal wieder auf Eis, sein letztes Album „Hearts and Bones“ ist gnadenlos gefloppt und über die Exfrau, die's inspiriert hat, ist er immer noch nicht hinweg. Aber diese Platte wird anders. Ein ambitioniertes Projekt, das ganz in die Kerbe einer neuen, populären Welle schlägt, die sich worldbeat nennt. Populäre Musik wird vermischt mit Einflüssen traditioneller Musik aus aller Welt, wie etwa Asien, Südamerika und Afrika. „Graceland“ wird zu einem der quintessentiellen worldbeat-Werken werden, wobei auch Peter Gabriel oder die Talking Heads sich nicht lange bitten lassen. (Wenn die Redakteur*innen dieses Blogs mir noch lange hold sind, treffen wir beide bestimmt in dieser Reihe wieder.)
Simon ist sich schnell sicher, dass die Leadsingle „You Can Call Me Al” das Zeug zu einem gigantischen Hit hat. Der Song handelt von einem Durchschnittstypen, der ausgedehnt seine Durchschnittlichkeit bejammert, bis er nach Afrika geht und ein spirituelles Erwachen hat. Also geht es hauchdünn verschleiert um Simon, der für das Album nach Südafrika reist, um mit fachkundigen Musiker*innen am Album zu arbeiten und im Angesicht der Apartheid seine eigenen Probleme als ziemlich mickrig wahrgenommen haben muss.
Zurück in Amerika gilt es, die Promo-Maschine anzuheizen, und Simon weiß direkt, wen er anrufen muss: Seinen alten Spezi, Lorne Michaels - abzüglich einer kurzen Unterbrechung seit 1975 Showrunner der beliebten Sketch-Comedy-Show Saturday Night Live, kurz SNL.
Selbst Nicht-Amerikaner*innen ist diese Show ein Begriff und die meisten Leute wissen auch, dass die amerikanische Comedylandschaft ohne diese Sendung nicht denkbar ist. De facto bestimmt Lorne Michaels seit fast 50 Jahren, was und vor allem wen Amerika witzig finden sollte. Alle Comedians und Comediennes aufzuzählen, die bei SNL angefangen haben und seitdem zu Legenden des Fachs mutiert sind, würde hier den Rahmen sprengen, deshalb beschränke ich mich auf SNLs ersten großen Superstar, der nebenbei ebenfalls dicke mit Paul Simon ist und deswegen in diese Geschichte gehört: Chevy Chase. Je nachdem, welcher Generation man angehört, verbindet man ihn mit Filmen wie Caddyshack(1980), ¡Drei Amigos! (1986), den Abenteuern der Familie Griswold oder der Sitcom Community. Dieser Tage macht er sich eher einen Namen dadurch, ein…recht schwieriger Mensch zu sein, am Set und darüber hinaus. Aber dies sei hier beiseitegeschoben, denn es ist 1986 und alle lieben Chevy.
Also hopst Paul Simon in einen Flieger und absolviert mal wieder einen Gastauftritt bei SNL. Das fördert das Ansehen, er kann mit Michaels und Chase einen draufmachen und nebenbei will er auch gleich ein Musikvideo für „You Can Call Me Al“ drehen, während er den Song bei SNL performt. Das Resultat sagt ihm dann aber leider so gar nicht zu. So stellt er sich nicht das Video für einen Hit vor, der ihn vorm Karriere-Aus bewahren soll. Außerdem sind Performance-Videos ziemlich out, seit Michael Jackson sich auf die Bildfläche ge-hee-hee-t hat und Musikvideos dreht, die ganze narrative Sphären sprengen. Da muss was Innovativeres her. Glücklicherweise hat Lorne Michaels aber irgendwo noch einen leeren Raum und Chevy Chase hat gerade Zeit.
Das Video
Der recht kleine Paul Simon und der recht große Chevy Chase quetschen sich Schulter an Schulter durch den Eingang eines Raumes. Im Vordergrund warten zwei Stühle, ein Saxophon und ein Bongohalter auf sie. Simon und Chase setzen sich, geben sich fachmännisch die Hand und wenden sich der Kamera zu. Mit dem Gesang setzt die Magie ein: Beide beginnen, zu den Lyrics die Lippen zu bewegen. Simon hält kurz inne, wie überrumpelt- und lässt Chase weitermachen. Dieser performt also zu Paul Simons Stimme, mit ausufernder Mimik und Gestik und einem sichtbaren Enthusiasmus, während Paul Simon selbst deprimiert daneben sitzt und gelegentlich für Backing-Vocals einsteigt. Mit seiner Irrelevanz konfrontiert verlässt er sogar kurz den Raum. Sein erster großer Auftritt ist ihm mit einem Flöten-Solo vergönnt, an dessen Ende er wieder aufsteht, ganz und gar ins Spiel vertieft. Chase, sichtlich angetan, fühlt sich zum Mitmachen animiert- und schließlich performen die beiden eine Art Sidestep-Tanz und schwingen dazu Saxophon und Trompete. Simon verlässt erneut den Raum, um die bis dahin verschwundene Bongo-Trommel zu holen. Die beiden performen den Song, ganz in ihrem Element, zu Ende. Simon kann sogar ein Lächeln abgerungen werden, als Chase ihn fast (versehentlich?) mit der Trompete niederknüppelt. Tanzend und mit Bassgitarre und Trompete ausgestattet verlassen unsere Protagonisten wieder den Raum. Gefühlt ist das alles in einem Take passiert, tatsächlich gibt es in etwa 13 Cuts. Der Song plätschert aus, als würde er in den Weiten einer Savanne verschwinden.
Was ist denn nun dran an dem Video?
Über Chevy Chase lässt sich vieles, vor allem viel Schlechtes, sagen. Das steigt exponentiell zur Zeit, die man in Recherche über ihn investiert. Aber er ist ein fantastischer Performer. Und „You Can Call Me Al“ ist gerade durch seine blanke Optik die perfekte Bühne. Was Chase da betreibt, ist nicht nur einfaches Lip-Syncen, es ist ein Sketch, eine Performance, ein Bild für die Ewigkeit. Das ganze funktioniert aber gerade durch den trockenen Gegenpart von Paul Simon, dem die bisherige Erfahrung auf der SNL-Bühne anscheinend gut bekommen ist. Wir haben ein großartiges Setup- Chase, wie er Simon den Part stiehlt, die Spannung darüber, wie sich dieser Konflikt zwischen den beiden entwickelt, und dann das kathartische Moment, in dem sich auch bei Simon die Anspannung löst und die beiden einfach dahingrooven, wie vermutlich die Zuschauer*innen vor dem Bildschirm. Ein ikonisches Musikvideo kann sich nur selten gänzlich auf sich selbst verlassen, und Paul Simon hatte da einfach den richtigen Riecher: „You Can Call Me Al“ ist ein infektiöser Song, der einem Lange im Ohr bleibt. Das Musikvideo, auf den ersten Blick so einfach und dann doch komplex, bleibt lange im Kopf. Da sind die Kontraste zwischen Simon und Chase: Klein-groß, dunkler Blazer, helles Shirt- heller Blazer, dunkles Shirt, Apathie und Euphorie. Klar ist die Szene, in der Chase einen Schluck Wasser trinkt und das Glas anschließend durch den Bongohalter fallen lässt, einprägsam. Aber was ist mit dem anerkennenden Blick während des Flötensolos, der Art, wie Simon Chase die Flöte nach dem Solo zuwirft und dieser sie in seiner Blazertasche verschwinden lässt, Simons resignierter Blick zur Kamera, als er endlich die Bongotrommel in den Raum gehievt hat, die Art, wie er neben Chase Däumchen dreht oder den kleinen Tänzen, die Chase sitzend aufführt?
Es ist wenig überraschend, dass Lorne Michaels das Drehbuch fürs Video zugeschrieben wird, denn hier sehen wir die Art von Detailverliebtheit, die die besten SNL-Sketche groß gemacht hat. Regie führte Gary Weis, dessen Karriere sich aus ein paar Konzertfilmen, Musikvideos und, Überraschung, SNL-Sketchen zusammensetzt. Es bleibt eben alles in der Familie. Und genau wie bei der eigenen Familie kommt man hin und wieder zu diesem Musikvideo zurück und es fallen einem neue Details auf, die das ganze noch schrulliger, amüsanter und liebenswerter machen.
Fakten für die nächste Gartenparty
· „Graceland“ wurde zu dem erhofften Revival für Paul Simons Solokarriere, er erntete aber auch reichlich Kritik dafür, während der Apartheid in Südafrika aufgenommen zu haben. Denn eigentlich galt bis 1991 ein strenges künstlerisches Verbot, um nicht den Anschein zu erwecken, mit der damaligen Regierung zu sympathisieren. Hinzukommend musste Simon sich wie jede*r im Bereich worldbeat Tätige dem Vorwurf der kulturellen Aneignung stellen (ja, von kultureller Aneignung haben die Leute schon 1986 geredet). Das Resultat? Simon erhielt Morddrohungen und landete auf der Feindesliste der Vereinten Nationen. Bewahrt euch diesen Fakt auf, wenn sich jemand in der Runde über die heutige „Cancel Culture“ beschwert und die guten, alten, unpolitischen Zeiten betrauert.
· „You Can Call Me Al” ist der wahrscheinlich erfolgreichste Song mit Schnabelflötensolo. Habe ich offizielle Statistiken? Nein. Habt ihr weitere Beispiele für Songs mit Schnabelflötensolo? Dachte ich mir.
· Ein ikonisches Musikvideo zieht in aller Regel Parodien nach sich. Ich empfehle „No Secrets (There For You)“ von The Treble, die einmal zum Rundumschlag gegen Musikvideos der 80er ausholen.
· Bis heute ist Paul Simon 14 Mal bei SNL aufgetreten. Es gibt Grund zur Annahme, dass er ein eigenes Klappbett offstage hat.
· Die Exfrau, die Simons sechstes und siebtes Album inspirierte? Carrie Fisher. Die beiden waren 1977 bis 1980 liiert, bis Fisher Simon für SNL-Star Dan Aykroyd verließ (oh, süße Ironie). Kurz darauf ließ Fisher Aykroyd aber wieder für Simon sitzen, von 1983 bis 1984 waren die beiden sogar verheiratet. Fisher fühlte sich sehr geehrt, in Simons Songs aufzutauchen. Ich wäre ehrlich gesagt auch nach sieben weiteren Alben nicht über sie hinweggekommen.
· Chevy Chase: 1,93 Meter groß. Paul Simon: 1,60 Meter klein. Alle Menschen, die sich durch ihre geringe Körpergröße im Bereich Dating behindert sehen möchte ich an dieser Stelle daran erinnern, dass Paul Simon Carrie Fisher abgekriegt hat. Wenn man mit 1,60 Metern Prinzessin Leia, eine der fähigsten Dramatikerinnen, Drehbuchautorinnen und eine der witzigsten Frauen des letzten Jahrhunderts in Personalunion für sich gewinnen kann, ist alles möglich.
· Es spukt seit Jahren der Mythos umher, Chevy Chase habe die Lyrics zu „You Can Call Me Al“ im Auto auf dem Weg zum Dreh gelernt. Ich konnte diese Geschichte nicht durch meine Recherchen verifizieren. Aber sie hält Prokrastinierende seit Jahr und Tag am Leben und mich von der Arbeit ab.