Das Jahr ist 1969. Natürlich ist alles schwarz-weiß. Ein Junge namens Buddy (Jude Hill) spielt mit anderen Kindern auf einer Belfaster Straße. Seine Mutter ruft ihn zum Tee. Die Kamera schlängelt sich durch sein Viertel, vorbei an schrulligen und weniger schrulligen Nachbarn, die ihn kennen, seit er auf der Welt ist. Vorbei an Läden und Wohnungen, die alles sind, was er wirklich von dieser Welt kennt. Auf einmal ist da eine wütende Meute und viel Lärm, die vertrauten Gesichter um ihn wirren umher, ein Auto beginnt zu brennen. Die Kamera dreht sich um Buddy, der erstarrt ist, weil das alles einfach nicht sein kann und trotzdem passiert.
Das Jahr ist 1969. Irland fängt an, zu zerreißen.
Genau diesen historischen Zeitpunkt hat Regisseur und Schauspieler Kenneth Branagh sich für seinen neuesten Film Belfast ausgesucht. Hinter der Kamera ist Branagh für grob drei Sorten von Filmen bekannt: Seine Shakespeare-Adaptionen, von denen Hamlet (1995) zweifelsohne die Erfolgreichste war, seine Umsetzung von Thor (2010) für Marvel und seine neueren Verfilmungen von Agatha Christie-Stoffen, jüngst Tod auf dem Nil (2022, fertiggestellt 2019). Wer Branagh vor der Kamera gesehen hat, vor allem in jungen Jahren, so wirft der- oder diejenige einen Blick auf den blonden Buddy mit den Pausbacken eines Zwiebackwerbegesichts und erkennt darin Branagh selbst. Somit ist Belfast ein ungewohnt persönlicher Film, eine lose Autobiografie des Regisseurs, der die tituläre Stadt im Alter von neun Jahren mit seiner Familie verlassen musste. Der Branagh, den ich in den letzten Jahren beobachtet habe, scheint doch sehr tätig im Kommerziellen, was kein an und für sich schlechtes Attribut ist. Aber er ist für mich in dieser Schaffensphase auch synonym geworden mit einer gewissen Künstlichkeit. Das schlägt sich vor allem optisch aus; In Thor und Cinderella (2015) fand ich die sehr liberale Verwendung von CGI auch schon bedenklich, aber vertretbar, weil wir uns hier in Fantasiewelten bewegen. Mord im Orientexpress und Tod auf dem Nil bringen meine Augen zum Bluten. Ich hatte eine Art Branagh-Epiphanie, als ich in der Kinovorstellung zu Tod auf dem Nil saß, auf dem Papier eine der wohl deprimierendsten und dunkelsten Umsetzungen von Christie. Hier waren doch die Ecken und Kanten offensichtlich im Drehbuch! Aber ich konnte sie nicht wirklich nachempfinden oder schätzen. Ich saß nicht im Kino und sah mir eine spannende Kriminalgeschichte an, ich sah mir eine Produktion einer Kriminalgeschichte an.
Als sich mir also die Möglichkeit bot, mir Belfast anzusehen, begegnete ich diesem Unterfangen mit ziemlich gemischten Gefühlen. Meinen Vorbehalten gegen Branaghs letzten Bemühungen standen nämlich auf einmal glühende Pressestimmen gegenüber, die Belfast als seinen besten und authentischsten Film seit Jahren anpriesen. Und ja, die sieben (!) Oscar-Nominierungen haben auch nicht geschadet.
Schnipsel einer Kindheit auf den Straßen von Belfast
Dies vorweg: Ja, die Prophezeiungen sind wahr. Belfast ist Branaghs bester Film seit langem. Ich staple das zuckersüße Fudgetürmchen des Lobes sogar noch höher: Einer von Branaghs besten Filmen überhaupt. Allerdings möchte ich schnell von diesem grauenhaften Konzept namens Authentizität Abstand nehmen, das Leute immer dann rausholen, wenn sie nicht pragmatisch begründen können, warum sie der einen Geschichte glauben und der anderen nicht. Ich habe diese Rezension genau so eingeleitet, wie Branagh Belfast einleitet- es beginnt alles mit Buddy in diesem Moment (okay, genau genommen beginnt und endet der Film mit offen gesagt recht deplatzierten Farbaufnahmen von Belfast, aber über die möchte ich nicht zu viel agonisieren). Und Buddy ist, was Branagh 1969 war: Ein Neunjähriger, für den das Katastrophale Hintergrund und das Banale katastrophal wird.
Für uns heißt das: Belfast wird keine Geschichtsstunde über den Nordirlandkonflikt. Das, was Buddy davon mitbekommt, sind hauptsächlich Berichte, die nebenbei im Fernsehen laufen, während seine Familie gerade mit ihrem Alltag beschäftigt ist. Seine Familie, das sind Ma (Caitríona Balfe), die ein überaus wachsames Auge über ihn und seinen älteren Bruder Will (Lewis McAskie) hat, während Pa (Jamie Dornan) ein Wochenendvater sein muss, weil er für wirklich rentable Arbeit nach England geht. Sie sind eine durchschnittliche Arbeiterfamilie. Es mangelt nicht latent an etwas, aber das Geld ist doch knapp (Pa hat nicht ganz so ein Händchen für Finanzen wie Ma). Aber wie könnte das Buddy lange kümmern? Es gibt ein hübsches Mädchen in seiner Klasse, seine Großeltern (Judi Dench und Ciarán Hinds) sind immer einen Katzensprung entfernt und wenn Pa da ist, dann geht es ins Kino. Man kann sich als Zuschauer kaum entscheiden, was magischer ist: Der Zauber, den die (ausnahmsweise bunte) Leinwand für Buddy bedeutet oder die offensichtliche Liebe, von der er umgeben ist. Granny und Pop sind die wohl charmantesten Großeltern in jüngster Filmgeschichte. Dench und Hinds, zwei vornehme Giganten, strahlen so viel Nahbarkeit und diese einzigartige Weisheit aus, die unerschöpflich wirkt, selbst wenn man als Erwachsene*r weiß, dass das auch alles improvisiert ist.
Ma und Pa haben seit Anbeginn des politischen Konflikts mehr zu streiten. Pa ahnt, dass sie wie viele andere Iren vor einer Entscheidung stehen: Im politisch und wirtschaftlich maroden Irland bleiben oder anderswo das Glück suchen? Und Ma, die den ganzen Film über eine dieser Frauen ist, die regelmäßigen nervlichen Zusammenbrüchen dadurch entgehen, dass sie zu sehr gebraucht werden, kann sich das nicht im Traum vorstellen. Belfast ist nicht nur Buddys ganze Welt, auch Ma und Pa, Granny und Pop waren nie wirklich woanders. Ma und Pa haben sich als Kinder im selben Viertel kennen und lieben gelernt, und nirgendwo kann es für Ma schöner sein als hier, auch wenn Belfast natürlich objektiv nicht das schönste Fleckchen Erde ist. Sie sind halt Iren. Das Viertel, die Nachbarn, die elendigen und die schönen Momente, das ist, wer sie sind. Wer sollten sie anderswo sein?
Eine irische Geschichte, ein universales Drama
Die Iren haben massig Grund für ein kollektives Trauma, und Branagh als Ire hat seinen Landsleuten diesen Film gewidmet. Das wirkt wieder, so Branagh-esque glatt, etwas zu aufrichtig. Aber es ist zweifelsohne ehrlich. Es ist vollkommen klar, dass Buddy seine Familie durch einen kindlichen, positiven Schleier wahrnimmt. Da ist der Moment, heimlich und doch nicht unbemerkt, in dem Pa Ma gegenüber anerkennt, was sie als effektiv alleinerziehende Mutter leistet. Ist das für 1969 realistisch? Oder noch schlimmer, authentisch? Oder ist das wieder Branagh-esque? Es ist eine Erinnerung, und die darf so subjektiv und verklärt sein, weil sie ein Teil von dem ist, was Belfast transportiert: Das Gefühl von Vertrautheit. Und das wird bedroht von etwas, das wir alle schon mal kennen gelernt haben: Ein Neuanfang.
Der große Roger Ebert, geheiligt sei sein Name am Firmament des Kritikerhimmels, hat zu Brokeback Mountain etwas geschrieben, was lange bei mir hängen geblieben ist: Man muss nicht schwul sein, um die Tragik mit den Figuren zu durchleiden, weil es nicht nur um Homosexualität geht, sondern darum, sich sein Leben lang nach etwas zu sehnen und es nicht zu bekommen. Ich muss keine Irin sein, um zu verstehen, worum es in Belfast geht. Das kann auch jede Person, die aus der Ukraine, aus Syrien oder von sonst wo nach sonst wo flüchten muss. Und jede Person, der ihr vorheriges Leben nach zwei Jahren Pandemie fremd erscheint. Aber auch jede Person, die zum ersten Mal zum Studium fortzieht und an der Decke der ersten Wohnung einfach nicht die Decke des Kinderzimmers wiedererkennen kann. Neuanfänge machen unwahrscheinlich viel Angst. Mit jedem Kapitel in unserem Leben, das wir bewusst enden sehen, sehen wir ein Stück von uns selbst enden, und wen da nicht die Panik packt, den sollte man vorsichtshalber auf Puls untersuchen. Buddy selbst fragt seinen Pop, was denn aus ihm werden soll, wenn die Familie anderswo hingeht- in England möge niemand Iren, alle werden sich über seinen Akzent lustig machen, und es gibt nicht den Süßwarenladen an der Ecke und die hübsche Klassenkameradin. Pops Antwort? Buddy wisse, wer er sei, und seine Familie wird ihn immer lieben. Ist das wieder dieses leicht Künstliche, zu Perfekte? Sicher. In Sachen Ungekünsteltheit ist Belfast mehr als ein Funken, aber kein Inferno. Ein solider Hausbrand.
Während Jamie Dornan als Pa in einer unglaublich schönen und fast mystischen Sequenz „Everlasting Love“ von Love Affair schmettert, sitze ich im Kino und habe eine neuerliche Epiphanie: Ich bin, wider Erwarten, unglaublich bewegt. Nicht nur obwohl, sondern vielleicht gerade weil Belfast dieses verklärende Element hat, das Branagh für mich ausmacht und das sein ganzes Potential in einer kindlichen Perspektive ausschöpfen kann. Es ist dem Maestro endlich gelungen, aus seinen vermeintlichen Schwächen eine Stärke zu machen. Unterstützt wird er dabei von einem großartigen Cast. Jude Hill trägt viel Spielzeit auf seinen jungen Schultern und meistert sie mit Charme. Von Caitríona Balfe hatte ich offen gesagt vorher nichts gehört; Ihre frische Performance animiert mich, in der Zukunft nach ihr Ausschau zu halten. Besonders freut es mich, Jamie Dornan hier zu sehen, für den dieser Film fast einer Rehabilitation gleichkommt. Auch wenn inzwischen viel Zeit und einige Projekte verstrichen sind, steht Dornan nach wie vor unverdient im Schatten der 50 Shades of Grey-Reihe. Der ganze Saal um mich wirkt verliebt, als er Balfe die Zeilen „Open up your eyes, then you’ll realize- here I stand with my everlasting love“ entgegensingt. Man ist fast versucht, ihm zu glauben und sich der Hoffnung hinzugeben, dass morgen kommen kann und am Ende doch alles gut wird.