Todd Haynes' Carol ist für mich einer der schönsten Filme des ausgehenden Jahrzehnts. Das liegt zu großen Teilen an der unvergleichlichen Kinoerfahrung, welche ich mit diesem Film verbinde. Am 4. Januar 2016 hatte ich mich recht spontan dazu entschieden, im kalten Winterwetter doch nochmal gen Lichtspielhaus aufzubrechen und mir Carol anzusehen. Das Liebesdrama, welches in den USA der 50er-Jahre spielt, hatte hervorragende Kritiken bekommen und war für fünf Golden Globes (Bestes Drama, Regie, 2 mal "Hauptdarstellerin – Drama" und Filmmusik) nominiert. Dennoch war ich skeptisch. Kann mich ein lesbischer Liebesfilm überzeugen, der (so dachte ich zumindest damals) in den Trailern eher nach langatmigem Prestige-Kino aussieht? In der Vergangenheit gab es ja auch öfters LGBT-Filme, sowie Filme in historischem Setting, denen man die Absicht, bei Preisverleihungen abzuräumen deutlich ansieht (sog. "Oscar bait").
Meine Befürchtungen lösten sich mit der ersten Szene des Filmes in Luft auf. Ich war absolut gebannt, verzaubert, begeistert. In einem spärlich gefüllten Kinosaal sitzend, der Filmmusik lauschend und die brillanten Bilder bestaunend, verlor ich mich in der Geschichte um Therese Belivet und Carol Aird und machte mich 118 Minuten später glücklich auf den Heimweg, im Bewusstsein meinen Lieblingsfilm des Jahres gesehen zu haben. Und das blieb er auch bis zum Jahresende, 12 Monate und ca. 50 Filme später. So setzte ich mich also in die Straßenbahn, setzte Kopfhörer auf, startete die Filmmusik von Carol und während ich durch das abendliche, durch Straßenlampenlicht gelblich getönte Dresden fuhr, begann es zu schneien. Passender konnte jener Abend nicht zu Ende gehen, eine Kinoerfahrung, die ich wohl nie vergessen werde.
Manhattan im Dezember 1952: Die junge Kaufhausangestellte Therese Belivet (Rooney Mara) hilft der eleganten Upper-Class-Lady Carol (Cate Blanchett) bei der Auswahl eines Weihnachtsgeschenkes für ihre Tochter. Als Carol ihre Lederhandschuhe an der Ladentheke vergisst und Therese ihr diese zuschickt, beginnt zwischen beiden eine Beziehung, welche in einem Roadtrip durch den Norden der USA mündet. Bei Thereses Freund Richard, welcher sie gerne heiraten würde, sowie bei Carols Ehemann Harge (Kyle Chandler), welcher sich gerade von ihr scheiden lässt, stößt die Beziehung zwischen den Frauen auf Unverständnis. Als letzterer an Beweise kommt, welche belegen, dass Carol und Therese ineinander verliebt sind, droht er, im Scheidungsprozess Carol das Sorgerecht für ihre Tochter zu entziehen.
So schnöde zusammengefasst könnte Carol auch ein ganz typisches Hollywood-Melodram aus der Glanzzeit des Genres in den 50ern sein. Technicolor-Bilder, große Gefühlsausbrüche, Cate Blanchett als modernes Äquivalent klassischer Leinwanddiven à la Lauren Bacall. Doch Regisseur Todd Haynes, welcher mit Far From Heaven bereits 2003 seine mehrfach Oscar-nominierte Hommage an Melodram-Meisterregisseur Douglas Sirk in die Kinos brachte, lieferte hier einen Film ab, der sich inszenatorisch deutlich von vergleichbaren Filmen abhebt.
Carol ist ein sehr ruhiger Film. Oft blendet Haynes Geräusche und Dialoge komplett aus, lässt stattdessen seine präzise Bildsprache, die Blicke der Protagonisten und Carter Burwells herausragende Filmmusik für sich sprechen. Letzterer setzt auch hier Piano, Celli und Klarinetten ein, welche für seinen Stil so typisch sind und auch bei vielen anderen seiner Kompositionen z.B. für A Serious Man oder In Bruges zum Einsatz kamen, diesmal gesellt sich zu den Instrumenten allerdings noch eine Harfe hinzu, beispielsweise zu hören in der Musik der Eröffnungsszene. Die Stimmung, welche die Filmmusik vermittelt, ist Burwell-typisch leicht schwermütig, allerdings wirkt diese, z.B. auch durch besagten Harfen-Einsatz, zarter, filigraner und flüchtiger als man es von vielen seiner Musiken gewohnt ist. Die zuvor erwähnte Stille findet sich auch hier wieder.
Manch einem wird das ruhige Tempo des Filmes öde oder behäbig vorkommen, ich bin aber ein großer Freund von Filmen, welche ihrem Publikum Zeit geben, sich in Szenen hineinzufühlen, über Gesehenes zu reflektieren oder Emotionen auf sich wirken zu lassen. Carol ist ein solcher Film, in dem ich mich komplett verlieren und die Schönheit von Bildern und Musik genießen kann. Insbesondere in der subjektiven Bildgestaltung hebt sich Carol stark von anderen Genrevertretern ab. So sieht das Publikum Geschehnisse oft aus einer beobachtenden Perspektive, mal aus Sicht der Protagonisten, mal hat man das Gefühl, als Außenseiter einen zufälligen Blick auf diese zu werfen. Kameramann Edward Lachman (der für diesen Film seine zweite Oscar-Nominierung erhielt) filmt oft durch Glasscheiben, nutzt Reflektionen und Unschärfen oder lässt das Bild durch Regentropfen verschwimmen. Die Bildkompositionen vermitteln Authentizität und Intimität und geben den Zuschauenden das Gefühl, die Geschichte gemeinsam mit den Charakteren zu erleben. Andererseits verleihen Unschärfen, sowie die starke Körnung des verwendeten Super-16-Filmmaterials den Aufnahmen eine gewisse Flüchtigkeit, was die Rückblendenstruktur der Erzählung eindrücklich unterstützt. So beginnt der Film mit einer Szene, welche chronologisch recht spät in der Handlung angesiedelt ist. Während einer Taxifahrt im Regen, in welcher Therese sich an die Anfänge ihrer Beziehung mit Carol zurückerinnert, filmt die Kamera sie von außen, Regentropfen fallen auf die Autoscheiben und funkeln im Licht der Großstadt, das Bild beginnt sich beinahe aufzulösen und die Handlung springt einige Monate zurück. Ich kenne wenige Filme, welche das Gefühl des Sich-Erinnerns so effektiv inszenieren, wie Carol (unübertroffen ist auf dem Gebiet wohl Tarkowskis Der Spiegel).
Bei einem Film, welcher sich so sehr auf seine Charaktere konzentriert wie Carol, müssen natürlich auch die Hauptdarstellerinnen unbedingt erwähnt werden. Dass sowohl Rooney Mara als auch Cate Blanchett hierfür sowohl für Golden Globes, als auch Oscars (Mara allerdings unverständlicherweise als Nebendarstellerin) nominiert wurden, ist sehr nachvollziehbar und hochverdient. Nicht nur, dass man den beiden die Faszination, welche sie füreinander empfinden, sofort abkauft, auch die Wandlungsfähigkeit der Charaktere ist interessant. Maras Therese startet im Film als schüchterne, unsichere Endzwanzigerin, noch auf der Suche nach sich selbst und ihrem Platz in der Welt, und gewinnt durch ihre Beziehung zu Carol an Erfahrung und Selbstvertrauen. Blanchetts Carol hingegen wird als selbstbewusste, elegante Dame installiert, der Zuschauende erfährt jedoch im Verlauf des Filmes, dass ihr Charakter bei weitem fragiler und weniger souverän ist, als es nach außen den Anschein hat. Darüber hinaus ist Blanchett eine der wenigen zeitgenössischen Darstellerinnen, welche ich mir in dieser Rolle vorstellen kann. Ihr Auftreten, Aussehen und insbesondere ihre Stimme passen perfekt auf Carols Charakter und wirken authentisch für die 1950er-Jahre, wie man sie aus klassischen Hollywood-Filmen kennt.
Was mich bei der ersten Sichtung Anfang 2016 sehr erfreut hatte, war die Natürlichkeit, mit welcher die gleichgeschlechtliche Beziehung zwischen Carol und Therese geschildert wurde. Während frühere Filme oft zur Dramatisierung neigten, hatte ich damals das Gefühl, dass jetzt auch das Hollywoodkino mittlerweile an einem Punkt angekommen sind, an welchem Homosexualität Teil des alltäglichen Lebens ist. In meiner Wahrnehmung begann mit Carol ein Trend qualitativ äußerst hochwertiger Kinofilme mit LGBT-Thematik. So gehörten in den darauffolgenden Jahren stets gleichgeschlechtliche Liebesfilme, wie z.B. Die Taschendiebin oder kürzlich Porträt einer jungen Frau in Flammen, zu meinen Lieblingsfilmen des jeweiligen Jahres. Auch bei Kritikern und Preisverleihungen stoßen Filme dieser Art auf enorm positive Resonanzen, so gewann mit Moonlight überraschenderweise eine intime Independent-Charakterstudie eines homosexuellen Afroamerikaners als Bester Film (und triumphierte damit über den vermeintlichen Favoriten La La Land, dem im Vorfeld als Hommage an Musicals des Goldenen Zeitalters Hollywoods größere Siegeschancen eingeräumt wurden), bei der letztjährigen Preisverleihung gewann der wunderschöne Call Me By Your Name fürs Beste Drehbuch. Ich freue mich sehr über die jüngsten Entwicklungen im LGBT-Kino und bin gespannt, welche neuen Kinokunstwerke uns in den kommenden Jahren auf dem Gebiet erwarten werden.
Carol ist in meinen Augen eines der Meisterwerke der 2010er-Jahre. Ein einnehmendes, wunderschönes Filmkunst-Kleinod, zart und filigran, wie die Schneeflocken, welche im weihnachtlichen Manhattan durch die kalte Winterluft langsam zu Boden rieseln. Ein ruhiges, stilles Liebesdrama, welches aufgrund des Settings, der Stimmung und der vermittelten Gefühle perfekt in die besinnliche Adventszeit passt. Einer meiner Lieblingsfilme des Jahrzehnts, herausragend in Bildgestaltung, Filmmusik und Schauspiel und daher mein KiK-Film des Wintersemesters 2019/20.
Wer den Film bei uns im KiK verpasst hat, kann ihn sich seit dem 14. Dezember auf Amazon Prime Video ansehen.