Im Genrefilmsektor gibt es kaum ein Filmgenre, welches häufiger bedient wird, als der Horrorfilm. Western sind out, Science-Fiction- und Fantasy-Filme benötigen in der Regel ein höheres Budget, Horrorfilme hingegen können auch ohne immense Kosten überzeugend realisiert werden. Das typische Indie-Horrordebüt sieht dabei wie folgt aus: stilvoll, mit leicht avantgardistischer Filmmusik, einer recht speziellen Prämisse und einem überambitionierten, nicht völlig befriedigendem Drehbuch. Klar, unter den zahlreichen Horrordebüts gibt es auch Perlen, wie z.B. Ari Asters Meisterwerk Hereditary, oder Rose Glass' beeindruckender Erstling Saint Maud, allerdings auch Filme, welche hochinteressant sind, aber ihr Potential teils verschenken, wie z.B. kürzlich David Priors Mystery-Epos The Empty Man. Auch Censor, das Langfilmdebüt der walisischen Regisseurin Prano Bailey-Bond, lässt sich eher in letztere Kategorie einordnen: bei weitem nicht perfekt, aber vielversprechend.
Großbritannien in den 80er-Jahren: Enid (Niamh Algar) arbeit als Filmzensorin für das British Board of Film Classification (BBFC). Ihr Beruf ist es, brutale Videoveröffentlichungen, sogenannte video nasties, zu sichten, eventuell die Entfernung besonders gewalttätiger Szenen anzuordnen, den Filmen eine Altersfreigabe zu vergeben oder die Veröffentlichung zu verbieten. Tagtäglich ist sie konfrontiert mit billig produzierten Slashern und anderen Exploitationfilmen, auf altertümlichen Röhrenbildschirmen oder der Leinwand des kleinen Vorführraumes flimmern Vergewaltigungen, Verstümmelungen und abscheuliche Mordszenen. Viel mehr als die menschenverachtenden Szenen in den zu prüfenden Filmen belastet Enid jedoch ihre persönliche Vergangenheit. Als Kinder spielten Enid und ihre jüngere Schwester Nina im Wald, nur Enid kehrte mit Erinnerungslücken zurück, von ihrer Schwester fehlt seitdem jede Spur. Als Enid in einem video nasty die rothaarige Schauspielerin Alice Lee (Sophia La Porta) sieht, welche ihr ähnelt, ist sie überzeugt, dass es sich bei ihr um ihre Schwester Nina handelt und beginnt, Nachforschungen anzustellen.
Inszenatorisch kann man Censor wirklich wenig ankreiden. Der Film sieht stilvoll aus, wobei besonders das überzeugende 80er-Jahre-Szenenbild und die Beleuchtung in argentoesk satten Farben in Erinnerung bleiben. Auch dass ein Film, welcher als Hommage an die video nasties tief in der Genrefilmhistorie verwurzelt ist, analog auf 35mm gedreht wurde, trägt zum stimmigen Gesamtbild bei. Während das Publikum im Vorspann eine Montage von Splatterszenen tatsächlich existierender Filme, wie beispielsweise The Driller Killer erwartet, sind die Filme, um welche es im Verlauf des Filmes detaillierter geht, frei erfunden. Die gezeigten Szenen nähern sich den tatsächlichen Vorbildern recht gut an, wirken aber dennoch etwas zu perfekt und poliert. Wieso wurde z.B. nicht mit Schmalfilm gedreht, wie er bei billigen Horrorfilmen damals oft zum Einsatz kam? Ein hübsches visuelles Stilmittel, welches gegen Ende zum Tragen kommt, ist der Wechsel des Bildformats. Der Einsatz verschiedener Seitenverhältnisse kann schnell prätentiös oder selbstzweckhaft wirken, hier ergibt er aber tatsächlich Sinn und unterstreicht subtil, aber dennoch wirkungsvoll den Gemütszustand der Protagonistin. Neben der visuellen Gestaltung kann auch die stimmungsvolle Filmmusik von Emilie Levianaise-Farrouch sehr überzeugen.
Filmmusik, Optik und Setting kulminieren in einem Film, der vorrangig durch seine Atmosphäre glänzt. Der Regisseurin Bailey-Bond ist es sehr gut gelungen, das 80er-Jahre-Setting audiovisuell einzufangen und das Konzept der Filmzensur in einen stimmungsvollen Horrorfilm zu verpacken. Mit der Genrebezeichnung "Horror" sollte man hierbei allerdings sorgsam umgehen. Von 08/15-Geisterbahngrusel ist dieser Film ebensoweit entfernt, wie von schockierenderen Vertretern des anspruchsvollen Arthaus-Horror, wie z.B. den Filmen von Ari Aster. Abgesehen von einem sehr wirkungsvollen Jump Scare bleibt der Film in Sachen Horror ingesamt zahm und präsentiert sich eher als Mysteryfilm, in welchem die Protagonistin versucht, das Rätsel um ihre verschwundene Schwester und einen zwielichtigen Exploitation-Regisseur aufzuklären. Der Horror-Aspekt findet sich dann am ehesten im zunehmend surrealen dritten Akt, in welchem sich durchaus Anleihen an Werke von David Lynch erkennen lassen. Wirklich verstörend oder aufregend wird es jedoch nie und für einen Film, der von Filmzensur handelt, bleibt Censor auch hinsichtlich der abgebildeten Gewalt überraschend brav und unblutig.
Gegenüber der sehr gelungenen Inszenierung fällt das Drehbuch leider, wie so oft bei Filmdebüts, ab. Gerade im Subgenre des "elevated horror" wird oft Ambiguität mit Tiefgang verwechselt, so auch hier im Drehbuch, welches die Regisseurin gemeinsam mit Anthony Fletcher verfasst hat. Während der Film viele spannende Ansätze hat, verschenkt das Drehbuch leider einiges an Potential, indem zu viel unausgesprochen bleibt. So sind alle Szenen, welche sich mit Enids Beruf als Filmprüferin befassen, interessant und unterhaltsam, hier hätte man sich jedoch noch mehr Einblick in die Branche und die zeitgenössische Rezeption von Gewaltdarstellungen gewünscht. Insbesondere die Themen Zensur und Gewalt in Medien werden nur sehr oberflächlich betrachtet und man vermisst eine klare Positionierung durch den Film. Ein Nebenplot um einen grausamen Mord, welcher vermeintlich durch einen Slasher, welchen Enid freigegeben hat, inspiriert wurde, liefert hierzu zwar einige Ansätze, es bleibt dennoch unklar, ob die Filmemacher:innen hiermit etwas zur Debatte um filmische Gewalt beitragen wollen und falls ja, was genau. Für die Handlung selbst ist der Mord hauptsächlich durch die Tatsache interessant, dass der Täter sich angeblich nicht an die Straftat erinnern kann. Die Parallelen welche der Film hier zieht zwischen traumatischen Erinnerungen, welche der Verstand zum Selbstschutz blockiert und dem Beruf der Filmprüferin, welche aus Filmen die brutalsten Einstellungen herausstreicht, sind tatsächlich wohl der größte erzählerische Kniff von Censor. Daran, was mit ihrer Schwester damals im Wald passiert ist, kann sich die Protagonistin nämlich nicht erinnern. Hat Enids Verstand die Erinnerungen an das Schicksal ihrer Schwester zensiert, da sie zu traumatisch sind? Oder hat Enid selbst etwas mit dem Verschwinden oder gar Tod ihrer Schwester zu tun?
Interessante Fragestellungen, auf die der Film aber keine zufriedenstellenden Antworten liefert. Auch das gesamte Mysterium um die rothaarige Schauspielerin verläuft im Sande, zugunste eines Finales, welches zwar visuell und atmosphärisch gelungen ist, in seiner Surrealität und Ambiguität jedoch viele Zuschauer:innen fragend zurücklassen wird. Am Ende fragt man sich vor allem, was der Film einem sagen möchte. Ist der Film eine Liebeserklärung an die VHS-Schmuddelfilme der 80er? Oder doch eine Kritik an stilisierten Darstellungen physischer und sexueller Gewalt? Geht es um die Verdrängung (bzw. "Zensur") traumatischer Erlebnisse oder die psychischen Auswirkungen von der tagtäglichen Konfrontation mit abgründigen Filmdarstellungen? Am Ende trifft vermutlich alles ein bisschen zu, wirklich zu Ende gedacht wirkt der Film aber nicht. Schade um die stilsichere Inszenierung und die starke Leistung der Hauptdarstellerin Niamh Algar.
Fans von ruhig erzählten Horror-Filmen und 80er-Jahre-Ästhetik können allerdings ruhig einen Blick riskieren, wenn der Film am 29. Juli seinen offiziellen Kinostart hat. Insbesondere auf der großen Leinwand und mit ordentlichem Sound, kommt die audiovisuelle Inszenierung gut zum Tragen. Man sollte jedoch nicht zu hohe Erwartungen an den Inhalt des Filmes haben und sich eher auf eine stilistische Fingerübung einer Regiedebütantin einstellen.