Es scheint widersinnig, zum Beginn der zweiten Periode bundesweiter Kinoschließungen im Dienste der Corona-Eindämmung einen aktuellen Kinofilm zu empfehlen. Doch mit Ema ist vorletzte Woche ein Film gestartet, der zu den außergewöhnlichsten des Kinojahres 2020 gehört und der dank seiner audiovisuellen Pracht stark von einer Sichtung im Kinosaal profitieren würde. Vielleicht wird der Film ja nach dem Ende der aktuellen Maßnahmen wieder von einigen Kinos gespielt. Ansonsten sollte man sich Ema definitiv auf die Watchlist setzen und ihn im Heimkino genießen, sobald er da veröffentlich wird.

Valparaíso im Morgengrauen. Über einer Straßenkreuzung brennt eine Ampel. Während auf der Tonspur ein triumphierender Synthesizer-Akkord ertönt, fährt die Kamera langsam zurück und enthüllt die Brandstifterin. Eine junge Frau mit platinblonden Haaren und einem auf den Rücken geschnallten Flammenwerfer. Die Einblendung des Filmtitels verrät ihren Namen: Ema.

Ema (Mariana Di Girolamo) ist Tänzerin in einer Tanzkompanie und mit deren Choreographen Gastón (Gael García Bernal) verheiratet. Zu Beginn des Filmes liegt ihre Ehe bereits in Trümmern. Grund dafür ist, dass Ema ihren Adoptivsohn Polo wieder fortgab, nachdem dieser Emas Schwester das Gesicht verbrannt hatte. Emas impulsive Entscheidung sorgt auch dafür, dass sie ihren Job als Tanzlehrerin in einer Grundschule verliert. Auch das Jugendamt hat wenig Verständnis für ihr Handeln. Nachdem ein Streit mit Gastón eskaliert, verlässt Ema mit einigen Freundinnen die Tanzkompanie und tanzt stattdessen Reggaetón in den Straßen von Valparaíso. Als Ema durch Zufall Polo und dessen neue Pflegeeltern sieht, fasst sie einen riskanten Plan.

Ein Künstlerpaar in der Ehekrise: Ema und Gastón © Koch Films

Ema ist nach Jackie und Neruda Pablo Larraíns dritter Film, welcher nach dessen Protagonist*in benannt ist. Auch wenn es sich bei Ema diesmal nicht um eine historische Persönlichkeit handelt, ist Larraín abermals ein faszinierendes Charakterporträt gelungen. Dabei bleibt der chilenische Ausnahmeregisseur seinem Stil treu. Wer einen klassischen, linear erzählten Film erwartet, wird überrascht und eventuell enttäuscht werden. Wie beispielsweise auch bei Jackie, besteht die Handlung von Ema aus einer eher losen Sammlung von Szenen, gemischt mit Rückblenden, welche ein Bild des Hauptcharakters zeichnen. Vieles bleibt unausgesprochen und vage umrissen, die Leerstellen muss der/die Zuschauende füllen. Doch wer sich auf Larraíns ungewöhnliche Art des Erzählens einlässt, wird mit einem der faszinierendsten Filme des Jahres belohnt.

Ema ist ein Rausch von Bildern und Musik, ein Film so rhythmisch, wie es in den vergangenen Jahren allenfalls Damien Chazelles Werke waren. Besonders eindrucksvoll zeigt sich Larraíns stilistische Expertise bereits in der ersten Viertelstunde des Filmes in einer atemberaubenden Montage. Umrahmt von einer Tanzperformance vor dem Hintergrund einer gigantischen Sonne in Falschfarben, wird die Vorgeschichte des Filmes, Emas Alltag als Tanzlehrerin an einer Grundschule und die Ehekrise zwischen Ema und Gastón in Rückblenden abgehandelt, alles rhythmisch geschnitten auf den Beat der Electro-Filmmusik von Nicolas Jaar. Auch nach dieser eindrucksvollen Szene bleibt der Film inszenatorisch eine Wucht. Elegante Kamerabewegungen, wunderschöne Bildkompositionen, Tanzszenen in Musikvideoästhetik, satte Farben und perfekt gewählte Schauplätze bestimmen die visuelle Gestaltung von Ema. Die Hafenstadt Valparaíso wird bildstark in Szene gesetzt, wobei insbesondere die Szenen in der Seilbahn, sowie Gastóns Wohnung in eindrucksvoller Hanglage in Erinnerung bleiben.

Ema tanzt mit ihren Freundinnen Reggaetón © Koch Films

Pablo Larraín schuf mit Ema ein Märchen für Erwachsene über eine Frau, welche sich von niemandem vorschreiben lässt, wie sie ihr Leben zu leben hat. Ema steht dabei sinnbildlich für eine Generation junger Chileninnen, welche sich über konservative Werte- und Moralvorstellungen hinwegsetzt. Sie ist ein impulsiver Charakter mit Ecken und Kanten, nicht alle ihre Entscheidungen wird man als Zuschauer unterstützen oder nachvollziehen können. Am Ende wird man jedoch bemerken, dass vieles im Dienste eines höheren Zieles stand: volle Kontrolle über das eigene Leben zu haben, unabhängig und frei.

Die letzten Minuten des Filmes, in welchen dem Zuschauer endgültig klar wird, worauf der Film schließlich hinauslaufen wird, zählen zu seinen stärksten Momenten. Nicht nur, dass der Film mit einer hervorragend inszenierten Schlusseinstellung endet, die Schlusssituation wirkt in ihrer Abstrusität humorvoll und fordert das Publikum heraus, sein Bild der Protagonistin zu überdenken.

Ema ist ein Film, der wohl nicht jeden Geschmack treffen wird. Eine Charakterstudie einer Protagonistin, die oft wenig nachvollziehbar oder sympathisch wirkt. Lückenhaft und vage erzählt, dennoch rhythmisch und mit stetigem Vorwärtsdrang. Wer sich darauf einlassen kann, wird jedoch mit einem faszinierenden Film belohnt, der seinen komplett eigenen Stil hat. In Sachen Bildsprache und Musikeinsatz gab es in diesem Jahr bisher kaum etwas von vergleichbarer Qualität. Sehr empfehlenswert!

Ein Vorgeschmack auf den Soundtrack. Die exzellente Filmmusik von Nicolas Jaar wurde bisher leider nicht veröffentlicht. © Fabula