Für die Meisten von uns wird es wohl schwierig werden, einen genauen Zeitpunkt festzulegen, an dem sie begonnen haben, Filme zu lieben. Oftmals ist die Liebesaffäre mit dem Kino ein gradueller Prozess, ein erwachendes Interesse von Werk zu Werk und von Erfahrung zu Erfahrung.

Dennoch: Als ich in etwa 11 oder 12 Jahre alt war, stand bei meinem Vater ein Filmabend ins Haus. Als geschiedener Elternteil war er immer engagiert, die begrenzte Zeit, die er mit mir hatte, intensiv zu nutzen, deswegen plante er oft im Voraus kleine Kochkurse, Trips in die Natur oder eben Cineastisches. An diesem Abend spürte ich instinktiv, dass da eine ganz andere Form von Euphorie hintersteckte. Es wurden feierlich Kerzen und Räucherstäbchen angezündet und die Vorhänge zugezogen. „Das war der erste Film“, erklärte er mir fast theatralisch, während er die gefühlt zwanzigste Wachsstange anzündete, „Der mich im Kino so richtig gepackt hat.“.

Und so kam es, dass erst mein Vater sich in Der Name der Rose verliebte und dann ich, fast 30 Jahre später.

Bruder Holmes und Mr. Adson: Lehrmeister und Schüler als Prä-Detektive ©Kinowelt

Die Ermittler im Mönchsgewand

Eine italienische Gebirgsabtei, 1327. Es sind düstere Zeiten, das Wissen liegt spärlich verstreut und Komfort ist nicht weicher als eine Steinzelle mit Strohkissen. Als Zuschauer*in spürt man schnell jeden Windzug, der die Klostermauern umstreicht, als der Franziskanermönch William von Baskerville (Sean Connery) hier eintrifft. Anbei führt er seinen jungen Novizen Adson von Melk (Christian Slater). Adson ist um die 15 Jahre alt; seine Lehrjahre bei Bruder William sollen ihn auf ein langes Leben für den Glauben vorbereiten, erfüllt mit keinerlei Laster, aber dafür umso mehr Tugenden und Weisheiten. Beides soll von Meister und Schüler rasch abverlangt werden, denn, wie der Abt der Abtei frische 10 Minuten nach ihrer Ankunft preisgibt, gehen hier mysteriöse Dinge vor sich. Ein junger, gutaussehender und belesener Mönch ist aus einem Turmfenster gefallen. Nach Besichtigung des verschneiten Tatorts deduziert Bruder William schnell die Wahrheit: Der Tote sprang selbst. Und so leicht hätte das Rätsel gelöst sein und er und Adson hätten einen unspektakulären Wissensurlaub haben können.

Aber bereits zu Beginn der Geschichte hat uns ein gealterter Adson aus dem Off mitgeteilt, dass sich in der Abtei allerhand obskure Brutalitäten zutragen werden, und irgendwie scheint das auch alles zu glatt. Warum sollte ein allseits beliebter Mönch das Stigma des Suizids auf sich nehmen und sich ewige Verdammnis aufbürden? Spätestens, als den nächsten Bruder ein ebenso graphisches wie symbollastiges Schicksal zuteilwird, ist klar: Die Ermittlungen haben gerade erst begonnen. Also alles von Vorne: die Abteigründe samt Friedhof müssen besichtigt und ein illustrer Cast aus potentiellen Zeugen befragt werden. Wir treffen beispielsweise auf den blinden religiösen Hardliner Bruder Jorge (Fjodor Schaljapin), der Thomas von Aquin fast gemäßigt wirken lässt; den schwachsinnigen Salvatore (ein fantastischer Ron Perlman) oder den korrupten Bruder Remigio (Helmut Qualtinger), der eine dunkle Vergangenheit versteckt. Schon bald kristallisiert sich heraus, dass es in diesem Fall um große Fragen des Glaubens und der menschlichen Natur geht – und um ein verschollenes Buch.

CSI Italy: Bruder Severinus (Elya Baskin) hilft mit neuen Erkenntnissen ©Kinowelt

Das klingt zwar alles sehr intellektuell und erbaulich, aber dennoch würde ich die Frage verzeihen: Wo soll da der Appeal sein, vor allem für eine breitere Masse? Nun, Der Name der Rose macht so viel Spaß, weil er eine Detektivgeschichte im religiösen Mantel ist und es schafft, das Religiöse auf das Menschliche zu übertragen. Gott hat keine besonders positive Präsenz in dieser Mär, wenn er überhaupt mal reinschaut. Stattdessen ist das Script erfüllt mit Charakteren, die alle ihre eigene, komplexe Beziehung mit und Wege zum Glauben haben. Viele Mönche in der Abtei leben die heilige Schrift aufs Wort; William von Baskerville sieht sie als philosophischen Spielplatz, auf dem er sich profilieren kann. Mittendrin ist Adson, für den dieser Kriminalfall eine Coming-of-Age-Geschichte darstellt und der sich fragen muss, welchen Glaubensfragen er sich stellen kann und will. Während der Ermittlungen entdeckt er eine andere Welt als seine vergleichsweise privilegierte. Vor den Toren der Abtei leben Menschen in tiefster Armut und Verrohung, während die theologischen Exzesse der Mönche in den heiligen Mauern an deren Bedürfnissen komplett vorbeigehen. Verkompliziert wird das Ganze dadurch, dass er quasi mit dem Penis voran in ein armes Bauernmädchen (Valentina Vargas) stolpert. Das führt zu einer großartigen Szene, in der er seinem Meister in ihrem nächtlichen Quartier die fleischliche Verfehlung gesteht und seinen Rat sucht. (Generell verdient jeder Film, in dem Sean Connery eine ahnungslose Jungfrau spielen soll, einen Ehrenoscar).

Aber der Schüler ist keine nervige Göre und sein Lehrer kein unfehlbarer Quell der Weisheit. Zwar ist Adson jung, unerfahren und kann Beweise oft nicht so schön durchdeduzieren wie William, aber er bringt die beiden nicht selten durch Pragmatismus und Weltnähe entscheidend voran. William von Baskerville ist ein brillanter Mann, dessen Tragödie es ist, dass er das zu gut weiß. Er ist unvorstellbar belesen, wissbegierig und in seinem Denken multidimensional, aber er würde auch für jedes gute Buch den Anstand auf den Straßenstrich und jederzeit den Sieg in einer Debatte über Heim, Hof und Leben stellen.

William und Adson, Verstand und Herz des Films ©Kinowelt

Natürlich liebe ich wie jeder Mensch mit funktionierenden Herzklappen einen Robin Williams’schen Mr. Keating in Club der toten Dichter (1989). Wir alle sehnen uns nach positiven Autoritätsfiguren, deren Weisheiten und Unterstützung wir romantisieren können. Aber William von Baskerville ist besser als das: Er ist eine leidige alte Nervensäge, er ist Adsons Fels in der Brandung, er ist ein heroischer Mann mit Prinzipien und ein Feigling, zerfressen von Reue. Auch er hat eine Vergangenheit, die im Dunkeln liegt und ihn wieder einholt, als die Inquisition und mit ihr der gefürchtete Bernardo Gui (F. Murray Abraham) in die Abtei geladen werden. Und so wird der Plot nicht getragen von zwei ermüdenden Abziehbildern, sondern von vielschichtigen und interessanten Persönlichkeiten, deren Dynamik und innere Konflikte fast so spannend sind wie der Fall selbst.

Die Hölle in Eberbach

Es ist ebenfalls eine große Stütze, wie illuster und durch die Bank hervorragend gespielt der restliche Cast ist, besetzt mit Charakterdarstellern, deren Gesichter eine Weltkarte des vorerleuchteten Lebens sind. Karikaturist*innen träumen von Antlitzen wie derer des Casts von Der Name der Rose. Es sollte niemanden überraschen, dass Regisseur Jean-Jacques Annaud während seiner fünfjährigen Vorbereitung ganz Europa bereiste, um sich seinen Traumstab zusammenzusuchen. Der damals 17-jährige Christian Slater ergatterte unter zahlreichen Bewerbern die Rolle und war ebenfalls eine Traumbesetzung. Vielleicht hat es auch ein bisschen geholfen, dass seine Mutter eine Castingagentin war.  Die Sexszene bedeutet allerdings auch, dass Gründe für… bereits zum zweiten Mal einen Film mit nackten Minderjährigen behandelt. (Gut, das ist eine Trefferquote 2/2, aber ich gelobe in der nächsten Ausgabe maximal nackte Erwachsene).

Gesichter des Glaubens (u.A. Michael Lonsdale, Volker Prechtel u. Michael Habeck) ©Kinowelt

Ein einstimmiges „Nein“ vom Studio, von Umberto Eco und von Annaud selbst bekam zunächst Sean Connery, aber nachdem Annaud ausgerechnet für den Protagonisten niemanden Besseres (Robert DeNiro, Paul Newman und Sir Ian McKellen waren in der Auswahl) gefunden hatte, engagierte er ihn doch. Und tatsächlich war Connerys Karriere 1987 an einem derartigen Tiefpunkt, dass Columbia dem Film daraufhin die Finanzierung entzog. Produzent Bernd Eichinger musste ein Gebäude in München verkaufen, um den Film weiterhin zu finanzieren. Autsch. Und dabei recht unverständlich, denn William von B. ist eine erfrischende Gelegenheit für Connery, sich von einer anderen Seite zu zeigen und zu offenbaren, dass er nicht nur charmante Frauenfeinde und supercoole Haudegen (also sich selbst) spielen kann. Vielleicht hat Connery sich gerade deswegen so um die Rolle bemüht. Ebenso aufdringlich war Ron Perlman, der erst zwei Vorbesetzungen aussitzen musste und sich für Salvatores Esperanza-esque Sprache den Roman in mehreren Sprachausgaben anschaffte. Fjodor Schaljapin wurde beim Dreh beinahe von einer niederfallenden Requisite erschlagen und reagierte mit den Worten „Ich bin 81 und sterbe eh bald, ist die Szene gut?“. So, und nicht anders, sieht Commitment aus.

Das erstreckte sich auch auf das Set: Historiker*innen wurden engagiert, um sicherzustellen, dass auch kleinste Details der Zeit der Filmhandlung angemessen sind. Die am Set engagierten rosa Schweine mussten kurzfristig schwarz gefärbt werden, weil es im Italien des 14. Jahrhunderts anscheinend keine rosa Schweine gab. Eco, eine Koryphäe auf theologiegeschichtlichem Grund, beschreibt in seinem Roman die Abtei bis ins kleinste Detail. Eines der aufwändigsten Filmsets der europäischen Filmgeschichte wurde im Römischen Umland nach diesen Beschreibungen aufgebaut; Die Innenaufnahmen wurden hauptsächlich im deutschen Eberbach gedreht. Ich lege an dieser Stelle das Making-of Die Abtei des Verbrechens: Umberto Ecos „Der Name der Rose“ wird verfilmt ans Herz, denn dort wird noch detaillierter auf die unglaublichen Mühen aufmerksam gemacht, die hinter dem Film stecken. Außerdem ist es ein schönes Zeitdokument, das einmal mehr unterstreicht, dass ein Film ein kollaborativer Aufwand ist, von den Darsteller*innen über die Regie, Musik, Schnitt und Setarbeiter*innen bis hin zu dem Gesangslehrer, der die Filmmönche in spé im lateinischen Gesang unterweist. All' diese kleinen Elemente fügen sich zu einem wunderbar atmosphärischem Thriller, dem man die harte Arbeit und die Liebe zur Vorlage ansieht.

Beim Setbesuch: Umberto Eco (2.v.r) mit (v.l.n.r.) F. Murray Abraham, Michael Lonsdale, Sean Connery und Jean-Jacques Annaud.

Trotzdem fielen die Filmkritiken gemischt aus und der Film an den amerikanischen Kinokassen durch. In Europa ist Der Name der Rose bis heute recht beliebt und spielte im Kino weltweit dann doch 77.2 Millionen Dollar ein. Wie entsteht eine solche Diskrepanz? Ecos Meinung zu der Umsetzung seines Romans liefert uns einen Hinweis.

Die Passion der Sandwich-Maker

Ein Buch wie dieses ist wie ein Club-Sandwich mit Truthahn, Salami, Tomate, Käse, Salat. Und der Film ist verpflichtet, nur Käse oder Salat zu wählen und die anderen Zutaten wegzulassen- die theologische Seite, die politische Seite. Es ist ein netter Film.

-Umberto Eco: Linguist, Philosoph, Autor, Sandwich-Experte

Eco ist nur fair, wenn er dem Drehbuch die Notwendigkeit einräumt, seine Vorlage zu komprimieren. Neben mir thront gerade meine deutsche Ausgabe des Romans. Sie zählt 661 Seiten. Und ja, in ihnen stecken viele Facetten, durch die man Adsons und Williams Geschichte betrachten kann. Neben den bereits erwähnten theologischen, historischen und politischen Komponenten gibt es auch eine dominant linguistische. Eco war in seinem Leben vieles, unter anderem Professor der Semiotik an der Universität Bologna. Das Gebiet der Semiotik beschäftigt sich mit der Verbindung zwischen den Dingen, die wir versuchen, mit Sprache zu beschreiben und den Zeichen, die wir dafür verwenden. Logischerweise nimmt dieses Gebiet in einer Detektivgeschichte um ein verschollenes Buch gründlichen Platz ein. Der YouTuber Kyle Kallgren hat jüngst ein penibel recherchiertes Video zur Rolle der Semiotik in Der Name der Rose veröffentlicht, und er macht einen besseren Job, als ich es je könnte. Letztendlich bin ich nur eine einfache Sterbliche, die sich mit einer 3.0 aus ihrer Semiotikklausur winden konnte.

Nicht minder fehlbar sind auch Andrew Birkin, Gérard Brach, Howard Franklin und Alain Godard. Diese vier Gentlemen waren mit der schwierigen Aufgabe betraut, ein so vielschichtiges Werk für die große Leinwand aufzubereiten. Ihr Drehbuch sollte das Ganze aber auf handliche 130 Minuten zusammenfassen, und bitte weniger deprimierend als die literarische Vorlage. Man möchte den amerikanischen Markt ja nicht verschrecken. So oder so nähert man sich mit so einem Unterfangen einer Catch-22-Situation, denn schon das Sujet an sich war nicht unbedingt zugeschnitten für Erfolg in den USA und Der Name der Rose ist einer dieser Romane, der eine vor Leidenschaft glühende Fanbase hat. Und die nimmt es traditionell schnell übel, wenn der Film weglässt, was im Buch so essentiell schien und ändert, was eigentlich schon perfekt war. Birkin wird das besonders gut wissen – er adaptierte auch Süßkinds Das Parfum, eine notorisch bemäkelte Literaturverfilmung.

Ich zähle mich zu dieser Fanbase, und mein Urteil ist sicher davon beeinflusst, dass ich zuerst den Film und dann das Buch kennengelernt habe. Aber dennoch sage ich: Zum Teufel damit, ich liebe sie beide. Ja, der Film ist optimistischer und ja, er schneidet viele der interessantesten Themen und Konflikte nur an. Aber genau deswegen funktioniert er, denn, wie Eco so schön sagte, er pickt sich seinen Salat heraus und das ist wenigstens verdammt guter Salat. 2019 erschien eine Serienadaption mit John Turturro und Rupert Everett, die vielleicht den Roman vollkommener verarbeitet. Ich habe sie noch nicht gesehen. Für mich liegt die Vollkommenheit in Annauds Umsetzung, die sich selbst im Vorspann als ‚Palimpsest von Umberto Ecos Roman‘ beschreibt, in der Atmosphäre des Tatorts Abtei und den komplexen Gestalten, die sie bewohnen.

Als Zuschauer*in hat man großes Glück, an einen Film zu geraten, der einen auf bestimmte Zeit in eine ganz andere Welt versetzt. Und wenn Adson William bittet, ihm die Beichte abzunehmen und der sonst wenig menschelnde William entgegnet „Mir wäre es lieber, du würdest es mir als Freund erzählen.“, dann ist der menschliche Kern einer Geschichte, die so viel Unmenschlichkeit beinhaltet, offensichtlich gemacht. Schon dafür lohnt es, Der Name der Rose immer mal wieder einen Besuch abzustatten.

Das KiK zeigt Der Name der Rose innerhalb der Reihe „Klöster im Kino“ am 27. Juni 2022 – sogar im stilechten 35mm-Format!