Als Startpunkt meiner aktiven Filmnerd-Karriere lässt sich wohl am ehesten mein 14. Geburtstag festlegen, als ich meinen ersten eigenen Computer bekam. Infolgedessen begann ich, per Online-Videorekorder all jene Filme aufzuzeichnen, welche ich aufgrund ihrer späten Sendezeit nicht im Fernsehen schauen konnte. Besonders angetan war ich dabei von den Kung-Fu-Kultfilmen, welche regelmäßig Freitagnacht auf Tele 5 liefen und auf so klangvolle Namen hören wie Das Todesduell der Shaolin oder Die tödlichen Fäuste der Shaolin (nicht zu verwechseln mit dem nicht weniger empfehlenswerten Der stählerne Todesgriff der Shaolin). Auch ein Jahrzehnt später bin ich immer noch großer Fan des asiatischen Kinos.
Meine Jugendhelden Jackie Chan und Jet Li drehen zwar keine Filme mehr desselben Kalibers wie in den 80ern und 90ern, dennoch erscheinen jedes Jahr zahlreiche hervorragende Filme im ostasiatischen Raum, die es hierzulande schwer haben, ein Publikum zu finden. Gemessen am Einspielergebnis scheint es in Deutschland eben leider nur deutsche, englischsprachige und französische Filme zu geben. Mit Regisseuren wie Zhang Yimou und Wong Kar-Wai konnte sich das festlandchinesische und das Hongkong-Kino immerhin seit den 90ern bei Kritikern und Cineasten einen sehr guten Ruf erarbeiten, Tiger and Dragon des taiwanischen Regisseurs Ang Lee gewann 2001 sogar vier Oscars. Auch das japanische Kino hat z.B. durch Anime-Filme oder die Werke von Takeshi Kitano (dessen Meisterwerk Hana-bi 1997 den Golden Löwen in Venedig gewann) hierzulande eine treue Fangemeinde.
Eine Kinonation, die in der Filmkultur des Okzidents jedoch oft etwas vergessen wird, ist Südkorea. Zu Unrecht! Etwa seit Anfang des Jahrtausends überzeugt die Filmindustrie der kleinen, dichtbesiedelten Nation regelmäßig mit hervorragenden Filmen. Zu den bekanntesten Regisseuren gehören hierbei Bong Joon-ho, Kim Jee-woon und Park Chan-wook. Obwohl einige koreanische Filme, wie z.B. Parks Oldboy oder Bongs The Host auch hierzulande Kultstatus besitzen, fristet das koreanische Kino in Deutschland ein Nischendasein. Die meisten jener Filme schaffen es überhaupt nicht zu uns, wenn überhaupt, dann nur als Heimkinoveröffentlichung. Dass ein koreanischer Film es in die deutschen Kinos schafft, stellt eine absolute Ausnahme dar. Da muss es sich schon um eine internationale Produktion mit bekannten Schauspielern handeln, wie z.B. Bong Joon-hos Snowpiercer. Oder eben um einen solch meisterhaften Film, wie Die Taschendiebin.
Der Film ist angesiedelt in den 30er-Jahren, Korea befindet sich unter der Herrschaft Japans. Die junge Taschendiebin Sook-hee (Kim Tae-ri) wird vom Hochstapler "Graf Fujiwara" (Ha Jung-woo) als Dienstmädchen ins Anwesen der japanischen Adligen Hideko (Kim Min-hee) eingeschleust. Diese lebt unter der strengen Kontrolle ihres Onkels Kouzuki (Cho Jin-woong), einem Händler antiquarischer Bücher. Der Plan des "Grafen" sieht vor, mit Unterstützung von Sook-hee Hideko zu verführen, zu heiraten und anschließend für geisteskrank zu erklären, um an ihr Vermögen zu kommen. Es kommt jedoch anders als gedacht, da sich Sook-hee in Hideko verliebt.
Wer die Filme von Park Chan-wook kennt, wird sich eventuell anhand der Handlungszusammenfassung wundern. Ein historischer Liebesfilm? Vom Regisseur brutaler Rache-Thriller, wie Oldboy oder Sympathy for Mr. Vengeance? Fans des Regisseurs kann ich eine Entwarnung geben: Auch Die Taschendiebin, bzw. The Handmaiden, wie er im englischsprachigen Raum heißt, fühlt sich in vielen Punkten wie ein typischer Park-Film an. So ist auch dieser Film enorm stilvoll inszeniert, unterhaltsam, spannend, unvorhersehbar und von boshaftem Humor und einigen Gewaltspitzen durchsetzt. In anderen Punkten unterscheidet er sich aber auch vom bisherigen Werk des Regisseurs.
Einerseits handelt es sich um seinen ersten Film mit historischem Setting, andererseits um seine erste Adaption eines westlichen Romans (Fingersmith der britischen Autorin Sarah Waters). Die Krimihandlung der Vorlage verlegt Park allerdings vom viktorianischen England ins Korea der 30er-Jahre und schafft somit nicht nur eine bissige Abrechnung mit der patriarchalisch geprägten Gesellschaft, sondern ermöglicht auch einen interessanten Einblick ins japanisch beherrschte Korea. Zu guter Letzt ist Die Taschendiebin auch das Werk von Park, welches bisher am emanzipatorischsten angelegt ist. Reduziert man die Handlung des Filmes auf das Wesentliche, handelt er schließlich von einem lesbischen Liebespaar, welches sich gegen die Männer zur Wehr setzt, die aus egoistischen Interessen versuchen, deren Leben zu kontrollieren.
All das inszeniert Park Chan-wook als bildstarken, spannenden Krimi-Thriller. Der Film betört dabei mit famoser Filmmusik, detailverliebten Kulissen und der gewohnt stilsicheren Bildsprache von Parks Stammkameramann Chung Chung-hoon. Mit seinen wunderschönen, kreativen Kompositionen gehört Chung für mich derzeit zu den interessantesten Kameraleuten und in Filmen, wie Ich, Earl und das Mädchen oder der Neuverfilmung von Stephen Kings Es, konnte er mittlerweile sein Können auch in Hollywood unter Beweis stellen.
Dass der Film trotz seiner beachtlichen Laufzeit von 145 Minuten durchweg spannend und interessant bleibt, erreicht Park durch einen besonderen Kniff: Er erzählt die Handlung nacheinander aus drei verschiedenen Perspektiven. Das heißt, der Zuschauer sieht bekannte Szenen später erneut, diesmal aber aus einem anderen Blickwinkel oder mit neuen Informationen, wodurch sich mehrfach während des Films überraschende Wendungen ergeben.
Zuschauern, welche mit dem koreanischen Kino weniger vertraut sind, dürfte einiges an der Inszenierung ungewöhnlich vorkommen. Etwa, dass der Film sich in Sachen Gewalt und expliziten Sexszenen nicht zurückhält. Oder dass er ein überraschendes Maß an Humor enthält, sowohl schwarzen und boshaften, als auch beinahe slapstickhaft anmutende Situationskomik. Diese Art des Stilmixes von Spannungs- und humoristischen Elementen ist typisch für das koreanische Kino und lässt sich noch stärker bei den Filmen von Parks Kollegen Bong Joon-ho beobachten. Dass die Sexszenen zwischen Sook-hee und Hideko so ausführlich und ästhetisierend zur Schau gestellt werden, mag aufgrund des feministischen Grundtons des Films zunächst irritieren, ergibt jedoch in meinen Augen durchaus Sinn. Schließlich ist Hidekos Onkel Kouzuki auch Besitzer einer umfassenden Sammlung erotischer Kunst (z.B. auch frühen Werken japanischer Tentakel-Pornographie) und Literatur. Letztere lässt er von Hideko bei privaten Lesungen regelmäßig gebannten, männlichen Zuhören vortragen. Park Chan-wook stellt hier also den Perversionen, welche Hideko gezwungen wird vorzutragen, die Liebe zu Sook-hee gegenüber, in welcher die beiden Charaktere Freiheit finden. Dass die Liebesgeschichte zwischen den beiden Frauen so mitreißend ist, liegt vor allem auch an den hervorragenden Hauptdarstellerinnen. Kaum zu glauben, dass dieser Film das Spielfilmdebüt für Kim Tae-ri war!
Mit Die Taschendiebin ist Park Chan-wook einer der besten Filme der letzten Jahre gelungen. Mitreißend, überraschend und enorm stilvoll inszeniert. Auch an den koreanischen Kinokassen war der Film mit über 4 Millionen Besuchern ein voller Erfolg, im Vereinigten Königreich war er der erfolgreichste nicht-englischsprachige Kinostart des Jahres. Deutschlandweit lief der Film hingegen nur in 38 Kinos an (zum Vergleich: aktuelle Blockbuster starten in der Regel in über 600 Kinos). Ob es wohl auch in Deutschland mal ein koreanischer Film in den Mainstream schaffen wird? Vermutlich nicht. Aber mit Bong Joon-hos neustem Werk Parasite, welches in Cannes gefeiert wurde und als erster koreanischer Film überhaupt die prestigeträchtige Goldene Palme gewann, gibt es zumindest schon den nächsten Arthausliebling mit Kultpotential. Hoffentlich diesmal mit einer umfassenderen Kinoauswertung!
Wer jetzt Lust auf Die Taschendiebin bekommen hat, ist herzlich dazu eingeladen, den Film bei uns im KiK zu schauen, wo er am 4. Juni in der koreanisch-japanischen Originalfassung mit deutschen Untertiteln zu sehen sein wird.