“Mach es andersrum. Mehr wie so 'ne Mordgeschichte.
Wer hat den Jungen umgebracht, der ich mal war?
Verstehst du? Schreib es rückwärts.“ - Stuart Shorter

Ich habe viele große und kleine Passionen. Zu den beiden wohl größten gehören Filme und Essen, und in nicht wenigen Buchhandlungen kann man Kochbücher erspähen, mit deren Hilfe man Gerichte inspiriert von der Hogwarts’schen Festtafel oder dem (vermeintlichen) Speiseplan eines Jediritters nachkochen kann.

Solche Chosen sind mir meistens zu gimmickhaft. Aber so manches Mal, wenn ich einen Film schaue und in diesem gekocht wird, dachte ich so bei mir „Mei, des wär doch eigentlich auch was für meine Bratpfanne!“. Zumal eine andere große Leidenschaft von mir die abgehobene Filmkritik ist. Und wenn auch Sie, geneigte Leserschaft, gerne Onlinerezepte nachkochen und sich regelmäßig ärgern, dass Sie sich durch Paragraphen von Belanglosigkeiten wühlen müssen, damit Foodblogger:in von Welt das Copyright am Rezept behält, dann habe ich gute Neuigkeiten: Hier wird’s das nicht geben! Zumindest müssen Sie sich keine süßlich-triefenden Geschichten über meine Oma anhören (wenngleich Marianne Rühle eine Ikone ist und ich sie mehr liebe als alle Filme und jedes Essen zusammen).

Nein, stattdessen werde ich Ihnen alles an die Hand geben, damit Sie ein schmackhaftes Gericht auf den Tisch zaubern können. Und zwischendurch erzähle ich Ihnen etwas über die BBC-Fernsehproduktion Stuart: A Life Backwards, basierend auf der gleichnamigen Biografie von Alexander Masters. Stuart tut sich durch zwei Dinge hervor: Der Film ist mit Benedict Cumberbatch und Tom Hardy in den Hauptrollen besetzt (beide blutjung und kurz vorm großen Durchbruch) und das Buch war und ist meine Lieblingslektüre. Also auf zum Supermarkt Ihrer Gunst!

Für Sträflingscurry (zwei Portionen) brauchen Sie:

·      Eine Packung Soja-Hühnchenersatz. Das Originalrezept verlangt nach 3-4 Billig-Hähnchenkeulen, aber ich esse kein Fleisch. Sie können sich gerne an echtem Tier gütlich tun; Sofern es finanzierbar ist, nehmen Sie natürlich bitte glücklich Gehaltenes.

·      Eine Zwiebel. Das Originalrezept verlangt nach zwei, aber wir sollten den Bogen nicht schon so früh überspannen.

·      ½ Glas Currypaste. Ob rot, gelb oder grün ist Ihnen überlassen – was Sie am ehesten anlacht.

·      Eine Dose gehackte Tomaten.

·      150g Zuckerschoten oder Brechbohnen aus dem Tiefkühlfrost.

·      200g Mais. Das Originalrezept verlangte nach Pilzen, grünem Mais „oder so was“, aber ich esse Pilze nur im Rohzustand. Generell können Sie hier knackiges Gemüse Ihrer Wahl einsetzen; Ich mag Zuckerschoten wegen ihres Proteingehalts und Brechbohnen wegen ihrer geringen Kaloriendichte. Und weil sie lecker sind.

·      Chinesische Gewürzmischung, und davon nicht zu wenig.

·      ¾ Tasse Reis.

·      Plus: Öl zu anbraten. Raps- oder Sonnenblumenöl sind meine Empfehlungen.

Während Sie sich nun die Zutaten zusammenhorten, erkläre ich Ihnen kurz, wessen Rezept wir hier eigentlich kochen.

Wer war Stuart Shorter?

Rein zufällig heißt der Film so auf Deutsch und ist über WOW/Sky streambar. Ich finde den Titel etwas lieblos, das Buch und den Film über Stuart Shorter aber alles andere als das.

Um die Frage kurz zu beantworten: Stuart Shorter war ein Kleinkrimineller und immer-mal-wieder-Obdachloser, der um die Jahrtausendwende in Cambridge Autor Alexander Masters traf. Der hatte Physik und Mathematik studiert, arbeitete in allerlei Gelegenheitsjobs und schrieb nebenbei für Interessenmagazine.

Einer dieser Jobs war in einer Obdachlosenhilfe; Alexander hatte „keine besondere Liebe“ für Obdachlose, die Arbeit war einfach zeitlich angenehm und gut vergütet. Schnell wurde Alexander klar, dass  Stuart selbst unter den generell schrulligen Obdachlosen besonders speziell war. Er hatte einen interessanten Alltag und ein interessantes Leben.

Zwischen den beiden wurde eine unerwartete Freundschaft geknüpft und ein Plan ausklambüsert. Alexander würde eine Biografie über Stuart schreiben, diese an einen Verlag verhökern und beide würden sich damit Wohnungen kaufen und am Obulus erfreuen. Schließlich war das doch ein dolles Konzept: Eine Biografie über jemanden, der eigentlich nicht mal wirklich zur Gesellschaft gehört und für den sich sonst niemand interessiert! Sowas Originelles sollte sich doch ans Lesevolk bringen lassen.

Die zweite Besonderheit des Buchs kam durch eine Anregung Stuarts zustande, nachdem er Alexanders erstes Manuskript gnadenlos verworfen hatte. Stuart fand das Ding einfach langweilig. Er wollte etwas, was die Leute wirklich packt. Und da seine Geschichte die Geschichte eines unauffälligen, glücklichen kleinen Jungen ist, der sich zu einem wankelmütigen, gelegentlich gewalttätigen Typen entwickelt, lag für ihn auf der Hand: Die Geschichte muss rückwärts erzählt werden.

Ich erzähle Ihnen später, warum das so gelungen ist und wie sich Tom Hardy und Benedikt Cumberbatch in der Verfilmung schlagen. Aber jetzt geht’s erst mal an den Herd.

Wie kochen Sie Sträflingscurry?

Schritt 1: Wenn Sie ganz durchgeplant sind, vermengen Sie schon am Vorabend den Soja-Hähnchenersatz mit der Currypaste und lassen das die Nacht über ziehen. Dadurch wird das Curry maximal aromatisch. Aber es ist keine Todsünde, wenn sie diesen Schritt erst kurz vorm Kochen erledigen.

Schritt 2: Hacken Sie die Zwiebel.

Schritt 3: Braten Sie die Zwiebel in der Pfanne mit etwas Öl glasig; Geben Sie anschließend die Soja-Currypaste-Mischung hinzu und braten Sie das Ganze für etwa 5 Minuten. Wenden Sie zwischendurch und setzen Sie im Wasserkocher das Wasser für den Reis auf.

Schritt 4: Geben Sie das Wasser in einen Topf und erhitzen Sie die Herdplatte; Wenn alles schön blubbert, geben Sie den Reis in den Topf und stellen die Temperatur etwas herunter. Vergessen Sie nicht, den Reis etwas zu salzen!

Schritt 5: Löschen Sie das Gemisch in der Pfanne mit den gehackten Dosentomaten ab; Geben Sie ordentlich China-Gewürz und anschließend den Mais hinzu. Lassen Sie das 10 Minuten auf geringer Stufe köcheln.

Schritt 6: Halbieren Sie vorsorglich die Zuckerschoten. Die kommen erst kurz vor Ende ins Curry, weil Zuckerschoten nicht lange zum Aufquellen brauchen.

Sie haben ja nun etwas Freizeit, während das Ganze vor sich hinkocht. Also erkläre ich fix, was alles toll an Stuart, A Life Backwards ist!

Wer hat den kleinen Stuart ermordet?

Das Buch liest sich einfach unglaublich gut weg. Auf etwas über 300 Seiten beweist Alexander Masters viel Humor und geerdete Klarheit. Es ist enorm erfrischend, dass Alexander, der eindeutig ein Kind der gehobenen Mittelschicht ist, nie widerliches Betroffenheitsgetue aufsetzt. Er sagt auch schon mal unverblümt, wenn Stuart ihm auf die Nerven geht oder ekelt, aber da ist dennoch eine echte Freundschaft, die deutlich aus den Zeilen blutet. Es gelingt ihm, Stuart in seinen vielen Facetten einzufangen, und Stuart hat wirklich wahnsinnig viele. Die Handlung findet auf zwei Ebenen statt: Der Biografischen, in der Stuarts Leben in seinen eigenen Worten rückwärts erzählt wird, beginnend mit seiner letzten Obdachlosenphase Ende zwanzig und endend mit seiner Geburt. Und der Rahmenhandlung, in der Alexander und Stuart sich treffen, in der Kampagne zur Befreiung zweier unschuldig verhafteter Kolleg:innen von Alexander engagieren und das Buch schreiben.

Alle Klassendifferenzen in einem Sakko. ©BBC/ HBO

Am Anfang ist das alles noch sehr witzig und putzig; Während Stuart in seiner zerlotterten Sozialwohnung sein patentiertes Sträflingscurry für die Beiden kocht, erzählt er von seinen diversen Missetaten und Abenteuern. Masters begleitet das mit sehr originellen Illustrationen, sodass einem als Leser:in manchmal nicht direkt bewusst wird, wie schwerwiegend das ist, was man gerade erzählt bekommt. Und dann kommen die Straftaten, auf die Stuart kein bisschen Stolz ist, selbstzerstörerische Ausraster, die erschrecken.

Der echte Stuart Shorter litt an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Wenn Sie noch nie davon gehört haben: Diese psychische Krankheit bildet sich nach wiederholtem, schweren Trauma. Sie sorgt dafür, dass die Personen, die an ihr leiden, sehr schnell in ihrer Stimmung schwanken und sich auf vertraute Personen fixieren, auf der Suche nach Sicherheit, Stabilität und Zuspruch. Ungerechtfertigterweise haben Borderliner:innen den Ruf der Gewalttätigkeit anheften; Es ist aber korrekt, dass Selbstverletzung ein häufiges Symptom ist.

Ich habe einige Bekannte und Angehörige, die an Borderline erkrankt sind und ich kann Ihnen weitergeben, dass sie nicht gefährlich oder beängstigend sind. Diese Menschen bereichern mein Leben und sind zu Zuneigung fähig, die ich verbitterte Pissnelke kaum generieren könnte. Das Leben mit Borderline-Erkrankung ist herausfordernd, aber ein geregelter Alltag, feste Strukturen und professionelle Unterstützung können viel ausmachen. Das alles hatte Stuart aber nie. Weswegen ihn seine Krankheit härter trifft als manch andere Leidensgenoss:innen.

Sogar die berühmten Fingertattoos à la Night of the Hunter sind dabei! ©BBC/ HBO

Stuart kommt unglaublich sympathisch und nett daher. Das muss man irgendwann in Einklang bringen mit jemandem, der greifbaren Schaden angerichtet hat und dann wiederum mit einem jungen Stuart, dem so unfassbar viel Schlimmes wiederfahren ist. An dieser Stelle sei eine inhaltliche Warnung ausgesprochen: Hier geht es um Suizidversuche, häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch. Wir operieren mit ganz hartem Tobak. Bei der Verfilmung, für die Masters auch das Drehbuch schrieb, galt es also, diesen Schwenk zwischen dunklem Humor und Millieudrama hinzukriegen.

Natürlich hat die Verfilmung besonders Glück, mit Benedict Cumberbatch und Tom Hardy zwei Stars engagiert zu haben, die Stuart: A Life Backwards retrospektiv durch ihre jetzige Berühmtheit interessant machen, die aber seitdem auch immer wieder gezeigt haben, dass sie ihren Beruf können. Masters war direkt mit Cumberbatch zufrieden, als dieser am ersten Drehtag in Klamotten auftauchte, die seiner eigenen beige-biederen Garderobe entsprachen. Sowieso ist Cumberbatch nur eine Brille von der Borniertheit entfernt, die Alexander als Straight Man in diesem Comedy-Duo ausmacht. In den emotionalen Szenen spielt er ohne zu viel Pathos Mitgefühl und Trauer. Das ist schon feines Handwerk.

It's a Hard-Knock Life ©BBC/ HBO

Über den Show-Stealer muss dennoch nicht diskutiert werden: Tom Hardy gibt für Stuart wirklich alles aus seinem Repertoire, was er hat. Er bewegt sich durchwegs schleppend und versteift voran (der echte Stuart litt auch noch an Muskeldystophie), spricht in einem sehr distinktiven Idiolekt, in dem eine ganze Landkarte und Lebensgeschichte mitschwingt, und manövriert sich durch Kitchen-Sink-Slapstick wie durch Splatter. Man kann das ab-18-Rating des Films auf eine Szene festnageln, in der Hardy komplett nackt einen von Stuarts Nervenzusammenbrüchen nachstellt. Diese Szene ist hart anzuschauen, kompromisslos, unverblümt und von Hardy phänomenal gespielt. Er wurde deshalb 2008 für einen BAFTA nominiert, unterlag aber Andrew Garfield für Boy A. Da möchte man wirklich nicht in der Jury gesessen haben; Beide hatten den Preis verdient.

Ich hatte die Regiebemühungen als fernsehfilm-typisch mittelprächtig in Erinnerung. Nachdem ich den Film aber einige Zeit lang nicht und vor kurzem mal wieder geschaut habe, schätze ich doch sehr die schmucklose 2000er-Optik. Erfreulicherweise haben es auch Masters Illustrationen in animierter Form in den Film geschafft, was ihn in seinem Genre doch deutlich hervorhebt. Und unerwähnt sei auch nicht der tolle Soundtrack: Den Song „A Minor Incident“ von Badly Drawn Boy zum Beispiel, den viele eher aus dem Film About a Boy oder: Der Tag der toten Ente kennen. Stuart: A Life Backwards endet mit diesem Song und mir kommen immer noch jedes Mal die Tränen, wenn ich ihn höre.

Wisssen Sie, wobei mir noch die Tränen kommen? Wenn ich dran denke, was wir gerade Leckeres gekocht haben!

Die letzten Schritte

Schritt 7: Geben Sie die Zuckerschoten ins Curry und lassen Sie das Ganze noch einmal zwei bis drei Minuten kochen. Das ist super Pufferzeit, um schon mal den Tisch zu decken – just sayin‘.

Schritt 8: Gießen Sie den Reis ab und geben Sie etwas davon auf ihren Teller; Befüllen Sie den Rest des Tellers mit Curry. Ich habe das Curry noch mit Sesam garniert, aber das ist schnöde Zierde und keine Pflicht. Stuart und Alexander trinken dazu Bier und Billigwein, ich lasse Ihnen die Wahl, mit welchem Getränk Sie kombinieren. Aber wenn Sie etwas Unterhaltung beim Essen brauchen, habe ich eine klare Empfehlung für Sie: Geben Sie Stuart: A Life Backwards eine Chance. Ich hoffe, Sie werden dieses Duo genau so lieben wie ich.

Vielen Dank für’s Mitkochen – Mangiare!

Wenn Sie weitere Informationen zum Thema Borderline möchten, könnte ein Besuch der Borderline-Plattform hilfreich sein.

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