Der irische Regisseur Andrew Legge präsentiert mit seinem Spielfilmdebut eine Ode an zwei couragierte Frauen, an antifaschistische Kunst und an die Bedeutung der kleinen Zahnrädchen im Uhrwerk Geschichte. Es ist rar, dieser Tage im Kino noch komplett überrascht zu werden. Aber noch viel seltener ist die Art von Originalität, mit der LOLA daherkommt.
Wir schreiben 1941. Über die flackernden Schwarzweißbilder einer 16mm-Handkamera lernen wir die Schwestern Thom (Emma Appleton) und Mars Hanbury (Stefanie Martini) kennen. Wie ihre Namen schon verraten, stammen sie aus einem liberalen Elternhaus. Das hat sie zu emanzipierten Erfinderinnen gemacht, die, inzwischen Vollwaisen, das üppige Familienanwesen ganz auf ihre neuste Technologie ausgerichtet haben: LOLA. LOLA ist ein unhandlicher Apparat, mit dem sich in die Zukunft sehen lässt. Der Film langweilt uns nicht lange mit Erklärungen, wie den Beiden dieser Meisterstreich gelungen ist oder wie das Ganze genau funktioniert. Was den Plot schon mal zwei Ebenen über den handelsüblichen Christopher Nolan hebt.
Mars lässt uns mittels ihrer Aufnahmen im Found-Footage-Stil lieber daran teilhaben, wie sie und Thom die Protestmusik der 68er entdecken. Und da der Zweite Weltkrieg in vollem Gange ist und deutsche Offensiven omnipräsent sind, entschließen sich die beiden, LOLAs hellseherische Fähigkeiten zu nutzen. Das ruft aber nicht nur britische Regierungsvertreter wie Lieutenant Sebastian Holloway (Rory Fleck Byrne) auf den Plan, Thom und Mars werden mit den erwartbaren Konsequenzen für jene, die im Raum-Zeit-Kontinuum rumstochern, konfrontiert.
Seine Handlung ist definitiv nicht der Teil des Films, der vor Originalität strotzt. Wer Zeitreise-Rohkost wie Butterfly Effect, Zurück in die Zukunft oder, Gott verhüte, Adam Sandlers Click gesehen hat, weiß, was unsere Protagonistinnen erwartet. Natürlich die moralische Last ihrer Handlungen. Je mehr die Schwestern versuchen, im Sinne des Guten in die von LOLA prophezeite Zukunft einzugreifen, desto vertrakter werden die Folgen. Zunächst wirkt das alles ganz harmlos. Sicher, Mars ist bestürzt darüber, dass ihr Glamrock-Liebling David Bowie auf einmal aus der Geschichte verschwindet, aber, wie die pragmatischere Thom unbedarft entgegnet: „Dann ist er halt jetzt irgendwo Zahnarzt.“. Würden wir nicht alle die Beatles für den Weltfrieden opfern? (Die Meisten von uns zumindest George Harrison.) Das sind natürlich erzählerisch längst bewanderte Pfade, aber wir täten dem Film Unrecht, wenn wir ihn nur an seinen Grenzen messen würden.
Es ist nicht das Was, sondern das Wie, das LOLA zu einer ganz besonderen Perle macht. Visuell erwartet uns hier schon mal Einiges, denn Legge hatte einige Zeit, um sich seine Traumoptik vorzubereiten. Bereits 2009 behandelte er in seinem Kurzfilm The Chronoscope die Erfinderin einer Zeitmaschine, die damals allerdings noch in die Vergangenheit blickte. Schon dort bediente er sich eines sehr unterhaltsamen und liebevoll gestalteten Mockumentary-Stils. Und der samtigen Stimme von Jeremy Irons.
Für LOLA wurden sechs Monate lang Archivmaterialien gesichtet und möglichst zeitgenössische Kameras verwendet, die Hauptdarstellerin Stefanie Martini zu bedienen lernte. So weben sich Aufnahmen der wirklichen Wochenschau und Bombardements mit neuen 35mm-Aufnahmen einer unwirklichen Wochenschau und 16mm-Privataufnahmen aus dem Hause Hanbury zu einem ansehnlichen cineastischen Perser. Die knapp 80 Minuten Laufzeit werden von allerhand gewitzten Kniffen seitens Editor Colin Campbell versüßt, und es überrascht nicht im mindesten, dass auch er ganze sechs Monate für diese Collage aus Alt und Neu brauchte.
Wer bei solchen gewitzten technischen Spielereien schon einen wässrigen Mund bekommt, der wird auch sicher am zweiten Highlight des Filmes seine Freude haben: Dem fetzigen Synth-Soundtrack, den Musiker Neil Hannon (the Divine Comedy, hat außerdem ein paar Songs zu Wonka beigesteuert) inszeniert hat und auch im Universum des Films performen darf. Hier kommt Human League-Flair auf und man ist versucht, das Tanzbein zu schwingen, bis diese Klänge in der Handlung einen viel bitteren Kontext bekommen. Generell ist LOLA ein unerwartet musischer Film (Legge attestierte: „It's not quite a musical film, but it is kind of a musical film.”). Sowohl Hannons Originalbeiträge als auch das Big-Band-Cover von “You Really Got Me Going” von den Kinks versprechen, lange im Ohr zu bleiben. Letzteres freilich wegen der wunderbaren Performance von Stefanie Martini.
Martini (Prime Suspect 1973, The Last Kingdom) und Emma Appelton (Pistol, The Witcher) sind zweifelsohne als drittes großes Highlight zu nennen. Beide Darstellerinnen sind hierzulande noch recht unbekannt, verdienen sich in LOLA aber so ordentlich Sporen, dass sie hoffentlich auf der großen Leinwand wurzeln schlagen. Während Mars durch Martinis charismatischen Einsatz vor- und hinter der Kamera und am Mikrofon zum Portrait einer glühenden, etwas verträumten Idealistin wird, ist es Appeltons Performance, die im Gedächtnis bleibt. Viele Fragen schwirren um die eigenbrödlerische, pragmatische Thom; Nicht alle können vom Film aufgelöst werden. Found Footage als Erzähltechnik bedeutet, dass wir fast ausschließlich Mars begleiten, und während ihr Charakter sicherlich sympathisch ist, ist er nicht unbedingt interessant. Ihre wie geplagt wirkende Schwester hingegen, die sich nicht um Nettigkeiten schert und einen androgynen Moderatgeber schreiben könnte, würde man manches Mal lieber in einer Szene agieren sehen. Zusätzlich befasst LOLA sich mit einem romantischen Subplot, der gut und gerne etwas kürzer hätte ausfallen können, sodass die Gesamthandlung etwas ungelenk daherkommt. Legge berichtete auch hier von den großen Schwierigkeiten, sein Drehbuch und das Found-Footage-Element in Einklang zu bringen. Innovation hat, das berichtet uns auch der Film, irgendwo seinen Preis.
Tatsächlich sah ich LOLA bereits im November bei einer Pressevorführung, in einem größtenteils leeren Saal mit der anderen handvoll Journalist:innen, die es Mittwochs um 10 aus dem Bett geschafft haben. So ein kleiner Rahmen wird diesem aufgeweckten, kreativen und insgesamt doch sehr unterhaltsamen Debüt nicht gerecht. Seit seiner Premiere auf dem Locarno Film Festival 2022 hat sich der Sci-Fi-Streifen in Underdog-esquer Manier zu uns auf die Leinwand gekämpft. Wer 2024 daran erinnert werden möchte, was Independent-Kino so alles kann, sollte LOLA auf keinen Fall verpassen.
LOLA läuft derzeit bei unseren Kolleg:innen in der Schauburg und im Thalia.
Diese Rezension wurde von dem gnadenlos talentierten Lukas Stracke gegengelesen, dessen eigene Arbeiten hier zu finden sind.