Er war der Mann, der zur Erde fiel, ein Visionär, ein Idol, ein Fremdkörper. Als David Bowie 2016 diese Welt verlässt, um sich auf den Weg gen Himmel oder seines Heimatplaneten zu machen, stürzt sich seine Fangemeinde in ein Spektrum zwischen tränengetränkter Bestürzung und dankbarer Zelebrierung eines Lebens, das weder Vorbild noch Vergleich findet.

Auch Dokumentarfilmer Brett Morgen ist damit beschäftigt das Ableben des Musikers, Schauspielers und Rundumkünstlers zu verarbeiten. Morgen scheint ein ausgeprägtes Faible für Persönlichkeiten und ihre Biografien zu haben, insbesondere von ikonischen Rockstars: 2012 begleitet er in Crossfire Hurricane die Rolling Stones, womöglich am Bekanntesten wird sein Film Kurt Cobain: Montage of Heck, der das Leben und Sterben des Nirvana-Frontmannes nachzieht und bis heute bei Fangemeinde und Cobains Hinterbliebenen umstritten bleibt. Aber auch nicht-musikalische Größen wie die Anthropologin Jane Goodall (Jane, 2017) oder der Produzent Robert Evans (The Kid Stays in the Picture, 2002) finden im Morgen‘schen Oeuvre Platz.

Bowie als nächstes Projekt scheint naheliegend, bringt aber auch einen gewissen Druck mit sich, weil sein Nachlass skeptisch mit der Anfrage umgeht und die Fans jetzt anspruchsvoller sind denn je. Vielleicht trägt ebendieser Druck zu Morgens Herzanfall im Januar 2017 bei – vielleicht sind es auch die von Morgen zitierten Zigaretten und mangelnde körperliche Betätigung. Jedenfalls weilt der Regisseur glücklicherweise noch unter uns und wir dürfen nun die Frucht seiner Bemühungen fünf Jahre später im Kino bestaunen.

Achtung, sensory overload! Der Ziggy Stardust-Flair in Farbe und Form ©Universal Pictures

Herausgekommen ist dabei ein Kaleidoskop aus Musik, Film, Malerei, Farben, Formen, Eindrücken und Aussagen. Wenn man an Bowies Song „Five Years“ denkt, in dem eine apokalyptische Zukunft besungen wird, wirken die Entstehungsjahre 2017-2022 fast selbst wie konzipiert. Der titelgebende Song „Moonage Daydream“ kann als statement piece für die gesamte Ziggy Stardust-Persona, derer sich Bowie Anfang der 1970er bedient, gelesen werden. Morgen erklärt diesen Charakter nicht und auch nicht den zeitlichen Rahmen und dessen Start- und Endpunkte. Das hat zur Folge, dass Bowie-Neulinge zur Orientierungslosigkeit und Die-Hards zur (anfänglichen) Irritation verdammt sind. Was sich zunächst entfaltet ist ein effektlastiges Schnittgewand, das mit Bowies Stimme aus dem Off eingekleidet wird. Massen von weinenden, jugendlichen Fans, ein androgyner Bowie auf der Bühne, die ikonischen roten Haare schockfrisiert. Farbfilter wechseln in Regenbogenreigen, Galaxien werden gezeichnet.

Ein Nebeneffekt der etablierten Weltraumthematik und Bowies spirituell angehauchten Erörterungen über Kunst ist, dass Moonage Daydream zeitweise den Look und das Gefühl eines Scientology-Rekrutierungsvideos transportiert. Das legt sich mit dem Fortlaufen der Dokumentation, die neben Konzertaufnahmen und Interviews aus Archiven immer wieder Fotos und Filmschnipsel enthält. Das können Filmclips sein, in denen Bowie selbst schauspielerte, oder Evokatives aus der Filmgeschichte. Gelegentlich entsteht so ein Spiel mit Kontext und Übertextlichkeit. In The Hunger von 1983 mimt er einen Vampir, dessen Unsterblichkeit ihm blitzschnell vergeht. Rapide gealtert zeigt er einer Ärztin ein Foto und sagt „You see, I’m a young man“. Moonage Daydream setzt diese Szene an einen Punkt in Bowies Karriere, an dem er das Altern akzeptiert und mit einer Mischung aus Neugier und Euphorie begrüßt. Morgen ist ein Virtuoso im Schnitt. Und dieser Film wirkt wie nach der William S. Burroughs-Methode erarbeitet: Schneide dein Werk auseinander, setze es neu zusammen und schau, was für ein Bild sich ergibt. Fabelhaft passend zu Bowie, der sich für einige Songtexte selbst der sogenannten cut-up-Methode bediente.

Bowie through the archives. Morgen hatte ungestörten Zugriff auf die Sammlungen seines Nachlasses ©Universal Pictures

So kristallisiert sich nach und nach eine Begleitung eines Werdegangs heraus, aber nicht auf die althergebrachte Music-Biopic-Art. Es gibt kein Interesse an Bowies Lebenslauf an sich. Einzig und allein die Kunst zählt. Wir lernen seinen älteren Halbbruder Terry nur kennen, weil er dem Jungen, der damals noch David Jones war, durch Beatpoesie und -prosa die Romantik des Außenseitertums eröffnete. Ironischerweise war es Terrys ausgeprägte Schizophrenie, die Bowie seinem neuen Idol Allen Ginsberg näherbrachte: Wie Ginsberg entwickelte er eine lähmende Panik vor dem eigenen, unausweichlich scheinenden Wahnsinn. Seine zweite Ehe mit Iman wird nur herangezogen, um einen sesshafteren, in sich ruhenden, spirituellen Bowie zu erklären. Das ist eine unglaublich erfrischende Herangehensweise für dieses Genre.

Die Ausbeute ist zweierlei: Zum einen ist der Künstler nicht auf ein prädominantes Narrativ festgelegt. Zum Anderen eröffnet das eine Perspektive, die ein künstlerisches Image durchdringt und tiefere Fragen über kreative Entscheidungen stellt. Eines der größten Detrimente von Morgens generell gelungenem Film Montage of Heck war,  dass er zwar einige öffentliche Mythen negierte und Neues an den Tisch brachte, aber trotzdem nicht genug Pluralismus offerierte. Sicher, Kurt Cobain war hier nicht nur das gequälte, vom eigenen Ruhm verfolgte Genie, aber ein großer Fokus lag dennoch auf seinen persönlichen Schwierigkeiten, gerade in Bezug auf seine mentalen Krankheiten und seiner Abhängigkeit. Das ist faktisch nicht falsch – Aber Cobain, der Künstler, der, der Rassismuskritik, Queerfreundlichkeit und Feminismus in der Grunge-Szene in und um Seattle salonfähig machte, der unter anderen Kunstschaffenden primär als brillanter Lyriker in Erinnerung bleibt und in Interviews zuweilen infektiös dunklen Humor bewies, blieb etwas auf der Strecke.

Zahlreiche andere biographische Dokumentarfilme über Künstler:innen leiden an einer Art 'Entkunstung', oder vielmehr wird die Kunst auf Oberflächlichkeiten reduziert. Das Leben der fraglichen Person wird aufgearbeitet und die wichtigsten romantischen Beziehungen abgegrast, in fester Überzeugung, das Privatleben müsse irgendwann in das künstlerische Schaffen hineinbluten. Beispiele hierfür finden sich etwa in Mystify (2019) über INXS-Frontmann Michael Hutchense oder Loving Highsmith (2022) über Autorin Patricia Highsmith, bestbekannt für die Romane um Tom Ripley und die Vorlagen für die Filme Strangers on a Train und Carol. In beiden Filmen erfahren wir einiges über die Frauen, mit denen Hutchense und Highsmith respektive geschlafen haben -  aber zahlreiche Aspekte des künstlerischen Schaffens werden dafür geradeaus stiefmütterlich behandelt. In Moonage Daydream wird sich nur der ausgesprochen schwierigen Aufgabe angenommen, künstlerische Prozesse eines enigmatischen Menschens greifbar zu machen. Und es ist nahezu dreist, wie gut das funktioniert.

Der Künstler, seine Kunst und die Rezeption von Beidem - was hinterlässt uns Bowie? ©Universal Pictures

Trotzdem ist und bleibt jede Dokumentation eine kuratierte Sicht auf das ihr zugrunde gelegte Sujet. Wir erhalten hier immer noch eine Sicht auf David Bowie per Brett Morgen. Auch, wenn die Ambiguität des Materials eigene Schlüsse anfeuert, so bekommen wir immer noch etwas präsentiert, und wie in jedem Fall ist jenes, was ausgelassen wird fast so vielsagend wie jenes, was stattfinden darf. Da Moonage Daydream kein besonderes Interesse an David Bowie (Privatperson) hat, wird auch nicht viel Raum für Kritik eröffnet. Diskurse um den Sänger, wie etwa die faschistische Aufmachung der Thin White Duke-Persona oder möglicher Missbrauch von minderjährigen Groupies werden ausgelassen. Vergleichsweise harmlose Vorwürfe gegen einen Bowie der „Let’s Dance“-Era in den 1980ern, sich dem Kommerz hingegeben zu haben, schaffen es hingegen in den Film. Sein Status als queere Ikone und selbstverständlich bisexueller Mann wird durch Archiv-Interviews während der 1970er zelebriert, aber seine spätere, zarte Distanzierung von der Thematik findet keine Erwähnung. Das kann Moonage Daydream nicht per se als Makel angekreidet werden. Es ist dennoch eine wichtige Beobachtung, dass bei aller gewollten Mehrdeutigkeit eine Richtung angedeutet ist. Und diese Richtung dekonstruiert nicht Bowies Legendenstatus, sondern erhält ihn als den beinahe Unantastbaren. „Bowie cannot be defined, he can be experienced” postulierte Brett Morgen April diesen Jahres auf der CinemaCon „That is why we crafted 'Moonage Daydream' to be a unique cinematic experience.”. Alle Alienwitze beiseite: David Bowie war ein Mensch. Ein in vieler Hinsicht außergewöhnlicher, aber letztendlich normalsterblicher, fehlerbehafteter Mensch. Er war keine irdische Supernova oder ein metaphysisches Konzept. Sein Werk zu beleuchten muss keine Skandalrundschau werden, aber dieser Grad der Mythologisierung wirkt befremdlich.

Morgen liegt im letzten Teil des Zitats dennoch richtig: Moonage Daydream ist eine wirklich singuläre Erfahrung und eine, die für den Kinobesuch ans Herz gelegt sein will. Jene, die sich einen Einstiegskurs über David Bowie erhoffen oder handfeste Informationsvermittlung im Stile einer Arte-Retrospektive, dürften eher dürftig bedient werden. Aber all jene, die neugierig darauf sind, welche Art von Innovation im Dokumentarfeld möglich ist, werden hier auf ihre Kosten kommen. Aber vor allem ist dieser Film ein Film für jene, die Kunst lieben und die fasziniert sein können von all den kleinen Gedanken, die in einem Song, einem Bild, einer Performance, einem Look münden. Bowie wäre sicher recht glücklich damit. #

Moonage Daydream läuft in Dresden derzeit in der Schauburg und im Programmkino Thalia