Mit der 94. Oscarverleihung ging vergangene Woche in der Nacht von Sonntag auf Montag die Filmpreis-Saison zu Ende. Eine Verleihung mit einigen Überraschungen, von welchen besonders eine in den Tagen danach zum Gesprächsthema Nr. 1 wurde: Eine Ohrfeige, die um die Welt ging. Doch dazu später mehr, denn wenn dieser Skandal einen Effekt hatte, dann den dass viel zu wenig über den Rest der Verleihung und über die Gewinnerfilme gesprochen wurde.
Dabei gibt es doch einige Sachen, die erwähnenswert sind. So gewann mit Ariana DeBose (Nebendarstellerin in West Side Story) erstmals eine offen queere Person und mit Troy Kotsur (Nebdarsteller in CODA) zum ersten Mal ein männlicher Gehörloser einen Schauspielpreis. Billie Eilish (*2001) und ihr Bruder Finneas (*1997) gewannen in der Kategorie Bester Song für "No Time to Die" und sind damit die ersten Oscar-Preisträger:innen der Generation Z. Mit Dune ist ein absoluter Publikumsliebling der Abräumer des Abends und Jane Campion gewinnt für den Netflix-Film The Power of the Dog als dritte Frau überhaupt den Oscar für die Beste Regie. Und erstmals gewinnt mit CODA ein Streaming-Film den Hauptpreis der Verleihung. Insgesamt ein Abend mit vielen verdienten Auszeichnungen und einigen Oscar-Meilensteinen, der zu Unrecht im Schatten des Fehlverhaltens einer Einzelperson steht.
Doch schon im Vorfeld sorgten die Oscars für einigen Aufruhr. So wurden nach den katastrophalen Zuschauerzahlen der letztjährigen Preisverleihung einige Änderungen vorgenommen, um in diesem Jahr wieder ein größeres Publikum zu gewinnen. Erstmals gab es zwei Publikumsabstimmungen ("Oscar Fan Favorite" und "Oscar Cheer Moment"), bei denen aus dem Ergebnis einer Online-Abstimmung ein Top-5-Ranking präsentiert wurde. Offenbar hatte der Oscar-Sender ABC, welcher zur Walt Disney Company gehört, versucht hier den Publikumshit Spider-Man: No Way Home unterzubringen, der abgesehen von einer Nominierung in der Spezialeffekte-Kategorie von der Academy komplett ignoriert wurde. Wie dem auch sei, der Plan ging nach hinten los (wer hätte das gedacht, bei einer Online-Abstimmung, wo jede Person mehrfach täglich abstimmen kann). Gewonnen hat in beiden Kategorien die Fangemeinde des polarisierenden Blockbuster-Regisseurs Zack Snyder, mit Army of the Dead als Fan-Favoriten des Jahres und dem Moment aus Zack Snyder's Justice League, in dem The Flash Überlichtgeschwindigkeit erreicht, als besten Jubelmoment aller Zeiten. Der kümmerliche Applaus des Publikums bei der Oscar-Show sprach Bände, wie wenig erfreut die Academy über das Ergebnis der Abstimmung (oder die Existenz der Publikumspreise) war.
Eine weitere Änderung hat jedoch noch für viel mehr Unmut gesorgt. Acht Kategorien wurden bei einer Prä-Show verliehen und die aufgezeichneten Dankesreden später in der eigentlich Oscar-Show auf einer großen Leinwand eingespielt. Bei den Kategorien handelte es sich um Szenenbild, Ton, Filmmusik, Make-up/Hairstyling, Kurzfilm und Kurz-Doku, sowie (besonders ironisch) Schnitt. So sollte die Länge der Preisverleihung unter drei Stunden gedrückt werden, indem die Verleihung dieser "below the line"-Kategorien verknappt wird, zum Beispiel durch das Auslassen des Weges der Preisträger zur Bühne. Die Umsetzung wirkte zwar letztenendes halbwegs nahtlos und auch die Gewinner in diesen Kategorien haben ihren Moment im Rampenlicht bekommen, wirklich kürzer wurde die Verleihung aber am Ende mit über 3,5 Stunden aber nicht. Da hätte man die Kategorien lieber in der Show belassen und stattdessen eine der nervigen Show-Einlagen (z.B. den sexistischen Corona-Test-Gag von Regina Hall oder das überlange Academy-Museum-Segment von Wanda Sykes) weggelassen. Interessanterweise hat zudem der Publikumsliebling Dune vier seiner sechs Preise schon vor der offiziellen Oscar-Show gewonnen, was auch vor der Bekanntgabe in der Übertragung bereits geleakt wurde. Und dass z.B. ein Hans Zimmer seinen zweiten Oscar nicht während der Verleihung, sondern in einer Prä-Show verliehen bekommt, wirkt schon etwas respektlos (auch wenn Zimmer sowieso nicht anwesend war, da er derzeit auf Tournee ist). Die Prä-Verleihung hatte auch den Effekt, dass die Red-Carpet-Show diesmal mit 3 Stunden extrem lang war. Irgendwie muss ja die Zeit überbrückt werden, in welcher ein Teil der Stars schon im Saal ist, andere aber noch auf dem roten Teppich unterwegs sind. Der Pro7-Reporter Steven Gätjen war von der überlangen Teppich-Berichterstattung zunehmend sichtlich erschöpft.
Und wie war die Show jetzt letztendlich? Insgesamt unerwartet gut! Nach drei Jahren ohne feste Moderator:innen führte diesmal das Komikerinnen-Trio Regina Hall, Amy Schumer und Wanda Sykes durch den Abend. Während Schumer im Eröffnungsmonolog als weiße Frau neben den beiden Afroamerikanerinnen noch etwas fehl am Platz wirkte, blühte sie in ihrem anschließenden Monolog spürbar auf und lieferte einige herrlich bissige Pointen. Ich war von den Hosts und vom gesamten Flow der Verleihung positiv überrascht, auch wenn zwischen Schumer und ihren Co-Hosts wenig Chemie vorhanden war. Auch der Einstieg in die Verleihung mit Beyoncés nominiertem Song "Be Alive" (aus King Richard), live performt auf dem Tennisplatz der Williams-Schwestern in Compton, war sehr gelungen. Ein kraftvoller Song, stark performt und mit toller Choreografie und tennisballgrünen Kostümen auch visuell ansprechend. Apropos visuell ansprechend: Andrew Garfield hatte eindeutig das beste Outfit des Abends!
Wie bereits erwähnt war Dune der Gewinner des Abends mit sechs Preisen: Kamera, Spezialeffekte, Schnitt, Filmmusik, Szenenbild und Ton. Da jedoch nur zwei der Preise live vergeben wurden, Kamera und Effekte, hatte man beim Schauen der Verleihung den Film weniger präsent wahrgenommen. Dennoch sehr verdiente Preise für den audiovisuell beeindruckenden Sci-Fi-Monumentalfilm, von welchen zwei sogar nach Deutschland gingen: Filmmusik an Hans Zimmer und Spezialeffekte an (den sehr sympathischen) Gerd Nefzer.
Neben Dune war die Tragikomödie CODA der Abräumer des Abends und vermutlich die größte Überraschung. Während der bisherige Favorit, der Netflix-Spätwestern The Power of the Dog, zum großen Verlierer wurde und trotz 12 (!) Nominierungen nur Beste Regie (Jane Campion) gewann, setzte sich CODA in allen drei Kategorien durch, in denen er nominiert war: Bester Film, Bestes adaptiertes Drehbuch und Bester Nebendarsteller. Nach zwei sehr guten Entscheidungen mit Parasite und Nomadland gewann diesmal wieder ein weniger spezieller, massentauglicherer Film. CODA ist ein sehr liebenswerter, mitreißender und rührender Film. Aber ist das wirklich ein "Bester Film"? Er hat tolle Darsteller und eine hübsche Story, aber den Hauptpreis hätten Licorice Pizza, The Power of the Dog, West Side Story, Drive My Car und Dune eher verdient gehabt. Aber ich schätze, in diesen schwierigen Zeiten freuen sich die Academy-Voter eben über einen Feelgood-Film mit Message und Happy End. So be it! Hoffentlich ist dann es dann nächstes Jahr wieder an der Zeit, einem wirklichen Meisterwerk den Stempel "Bester Film" zu geben. Gefreut habe ich mich für Troy Kotsur, da er ein cooler Typ ist und sein Sieg ein großer Moment für die Gehörlosengemeinschaft war. "Bester Film" hätte ich lieber bei einem anderen Film gesehen.
Während Dune ja bei den Technikpreisen abgeräumt hat, der hervorragende japanische Beitrag Drive My Car zurecht den Preis als Bester internationaler Film gewann, bei The Power of the Dog zumindest die Regie von Jane Campion gewürdigt wurde und Ariana DeBose einen Oscar als Nebendarstellerin in West Side Story gewann, ging Paul Thomas Andersons herausragender Licorice Pizza, mein Lieblingsfilm unter allen Nominierten, leider komplett leer aus. In der Drehbuch-Kategorie, wo er als Favorit galt, gewann stattdessen Kenneth Branagh seinen ersten Oscar für Belfast, die Verfilmung seiner turbulenten Kindheitserinnerungen während des Nordirlandkonfliktes. Es ist komplett unverständlich, dass Paul Thomas Anderson, einer der besten Filmmemacher der Gegenwart, trotz 11 Nominierungen immer noch keinen Oscar gewonnen hat!
Der Oscar für Drive My Car war zwar höchst verdient, aber auch sehr vorhersehbar, da der Film als einziger seiner Kategorie zusätzlich auch in der Hauptkategorie nominiert war. Es ist natürlich völlig legitim, dass ein ausländischer Film auch für den Besten Film antreten kann, aber es ist durchaus wahrscheinlich, dass durch diese Nominierungen auch das Abstimmverhalten der Academy-Mitglieder beeinflusst wird. Dass Steven Spielbergs wunderschönes Musical-Remake West Side Story und Jane Campions raffinierter Western-Thriller The Power of the Dog jeweils nur einen Preis erhalten haben, war sehr schade. Eine breitere Verteilung der Preise wäre hier etwas schöner gewesen, Dune ist schließlich nur der erste Teil einer Reihe. Da kann man ja auch noch den zweiten Teil bei der übernächsten Verleihung mit Technikpreisen überhäufen. Aber gut, so funktionieren geheime Abstimmungen eben nicht. Jedenfalls ist es schon etwas bizarr, dass der zwölffach nominierte The Power of the Dog keine einzige Auszeichnung außer der sehr relevanten Regie-Trophäe gewinnt. So etwas geschah zuletzt im Jahr 1967 mit Die Reifeprüfung.