Wem der Nachname Kurnaz noch bekannt vorkommt, dürfte schnell erahnen, welches Thema das deutsche Filmdrama Rabiye Kurnaz vs George W. Bush behandelt. Für alle Anderen und vorallem die jüngere Generation, die zu jung war um 9/11 mitzuerleben (was inzwischen übrigens 50% der Weltbevölkerung ist), bedarf es erstmal eines kleinen Geschichtsabrisses:

Die Anschläge des 11. September 2001 hatten zur Folge, dass der damalige US-Präsident George W. Bush den sogenannten War on Terror ausrief. Dieser beinhaltete neben dem Einmarsch der USA in Afghanistan auch die Errichtung des Gefangenenlagers Camp X-Ray in Guantanamo Bay auf der Insel Kuba. Dort wurden (und werden immer noch) Terrorverdächtige festgehalten und ist bis heute ein brisantes internationales Streitthema, nicht zuletzt da Barack Obama erfolglos für seine Präsidentschaft angekündigt hatte, das Lager schließen zu wollen.

© Pandora Film Produktion

Doch was hat das alles mit einem deutschen Filmdrama zu tun?

Ganz so weit von Deutschland entfernt wie man es sich wünschen würde ist Guantanamo dann leider doch nicht, denn in dem Gefangenenlager saß auch ein Bremer Junge namens Murat Kurnaz. Statt die Inhaftierungs- und Foltergeschichte aus seiner Sicht zu erzählen, nimmt der Film allerdings die Perspektive seiner titelgebenden türkischen Mutter Rabiye Kurnaz ein.

Der Film steigt auch direkt in Bremen mit der Hausfrau Rabiye (Mertem Kaptan) ein, als sie versucht ihren Sohn mit energischem Klopfen an seine Zimmertür zu wecken. Als sie nach ausbleibender Reaktion wütend ins Zimmer stürmt, muss sie feststellen, dass Murat weg ist. Panisch fragt sie ihre anderen beiden Söhne ob sie irgendwie wissen, wo er sein könnte. Auf dem Fernseher im Hintergrund laufen Bundestagsdebatten im Nachgang der Anschläge vom 11. September. Als sich Murat per Telefon meldet, sagt er, er fliege nach Pakistan, um dort Koranschulen zu besuchen in Vorbereitung auf die anstehende Hochzeit mit seiner muslimischen Gemahlin, die in der Türkei auf ihn wartet.
Rabiye ist außer sich und versucht ihren Sohn auf eigene Faust zurückzuholen. Das Problem ist jedoch, dass Murat nach einiger Zeit als Terrorverdächtiger in Pakistan gefangen genommen und letztendlich an die US-Army verkauft und ins Camp X-Ray verfrachtet wird.
In der deutschen Boulevardpresse schnell als "Bremer Taliban" verschrien, beginnt eine juristische Odyssee für Rabiye Kurnaz, welche sie zuerst an den Rechtsanwalt Bernhard Docke (gespielt von Alexander Scheer) bringt. Dieser macht ihr klar, dass Murat ohne Anklage im Gefangenenlager in Guantanamo auf Kuba steckt, einem juristischen Niemandsland. Die kubanische Regierung hat keinen Zugriff, die Amerikaner zeigen sich für ihr extraterritoriales Gebiet juristisch widerwillig und erschwerend kommt hinzu, dass der deutsche Staat sich nicht zuständig fühlt, da Murat zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen, aber offiziell türkischer Staatsbürger ist. Und die Türkei sieht ihn nicht als vollwertigen Staatsbürger an, da er nicht in deren Armee gedient hat. Rabiye Kurnaz lässt sich davon jedoch nicht einschüchtern und wächst im Laufe des Films über sich hinaus und tut alles, um ihren Sohn zusammen mit Bernhard Docke aus Guantanamo herauszuholen.

© Pandora Film Produktion

Der Film lebt besonders von dem Gegenspiel zwischen Rabiye und Bernhard. Sie mit ihrer herzlich offenen Lebenslust, immer einen kecken Spruch auf den Lippen und er hingegen mit einem zurückhaltenden kühlen Norddeutsch, aber doch ab und zu mit feinen Humorspitzen. Er ist wohlhabender Fahrradfahrer bei Wind und Wetter und sie ist begeisterte Fahrerin eines weißen Mercedes Cabriolet, welches sie von ihrem Mann geschenkt bekommt. Die Annäherung zwischen den Beiden im Laufe der Films ist einfach herzerwärmend.

Zwei Silberne Bären

Als ich im voraus mitbekommen hatte, dass ein Film über Murat Kurnaz gedreht wurde und dieser komödiantische Züge haben soll war ich äußerst skeptisch, wie das ganze bei so einer schweren Foltergeschichte überhaupt funktionieren soll. Bis mir klar wurde, was Meltem Kaptan für eine fantastische Performance hinlegt, um die immer lebensbejahenden Rabiye Kurnaz zu porträtieren. Kaptan ist hierzulande bisher eher als Stand-Up-Comedienne bekannt, hatte aber früher schon in amerikanischen Musicals und türkischen Filmen mitgespielt. Diese Schauspielleistung ist allerdings ihr deutsches Kinodebüt, für welches sie völlig zurecht auch mit einem Silbernen Bären für die Beste Hauptrolle ausgezeichnet wurde.
Alexander Scheer ist hauptsächlich durch seine Darstellung Gundermanns bekannt, allerdings in der Rolle des älteren Bernhard Docke so wandelbar, dass ich gestehen muss, dass ich ihn gar nicht wieder erkannt habe.
Es ist dem Regisseur Andreas Dresen hoch anzurechnen, dass er sich so einem Stoff widmet und nach einem Treffen mit den Kurnaz' und Dockes sich für eine Außenperspektive eines Gefängnisdramas entscheidet.
Auf jeden Fall Hut ab vor der Drehbuchleistung Laila Stielers, die es durch die beiden Hauptcharaktere schafft eine hoffungslose Juraodyssee zu erzählen und dabei Wert auf Details wie eine authentische Mehrsprachigkeit in den Dialogen zu legen. Auch Sie wurde übrigens für ihre Arbeit mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet.

© Pandora Film Produktion

Und ich schaue zwar keine zeitgenössischen deutschen Komödien, aber anhand derer Trailer frage ich mich, ob es eigentlich immer eine obligatorische Laufbandszene in einem Fitnessstudio geben muss? Es nervt, dass selbst dieses unnötige Element in dieses Filmdrama herüberschwappt und somit zu Szenen führt, die im Ton des Filmes einfach ein Stück drüber wirken, was der Film eigentlich gar nicht nötig gehabt hätte.
Umso erheiternder fand ich dafür, dass in juristischen Rollenbesetzungen natürlich ein Tatortbeteiligter nicht fehlen darf. Hier in Form von Charly Hübner als Staatsanwalt Stocker, der selbst mir als bekennendem Nichttatortgucker als (inzwischen ehemaliger) Rostocker Kommissar geläufig ist.
Sonst hat der Humor wider Erwarten für mich gut funktioniert und eröffnet somit dieses wichtige deutsche Geschichtsthema für ein breiteres Publikum, als es ein hart inszeniertes Folterdrama jemals hätte schaffen können. Obwohl ich natürlich die Kritik verstehen kann, dass die Rolle Murats in dem Film etwas zu kurz kommt. Was teilweise aber eben der Perspektivwahl geschuldet war, und der Informationsweg zur Zeit des Films eben sehr begrenzt war.

Ich kann "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" nur sehr empfehlen im Kino anzuschauen. Es ist ein unglaublich wichtiges deutsches historisches Thema. Der Film wäre ohne den Humor gar nicht in seiner jurisitschen Absurdidät der Situation zu ertragen und macht produktiv zornig auf das Menschenrechtsverständnis der deutschen Politik. Zumal sich die Verantwortlichen des deutschen Staates, allen voran unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, übrigens immer noch nicht zu dem Kurnazfall entschuldigt haben.
Es bleibt zu hoffen, dass der Film es schaffen kann, das Thema nochmal auf das politische Tableau zu heben um es endgültig abschließen zu können.

Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush läuft ab dem 28.04.2022 in den deutschen Kinos.

Falls sich jemand tiefergehend mit dem Kurnazfall beschäftigen möchte:
Autobiografie von Murat Kurnaz: Fünf Jahre meines Lebens - Ein Bericht aus Guantanamo
Interview mit Murat Kurnaz bei Jung und Naiv