Eine Familie verbringt einen idyllischen Tag im Freien. Die Kinder spielen am Fluss, Vögel zwitschern, Insekten brummen, die Sonne scheint. Irgendwann ist es an der Zeit, nach Hause zurückzukehren. In das geräumige Einfamilienhaus, an welches ein Gewächshaus und ein prachtvoller Garten samt Badebecken anschließen. Ein Manko ist zwar die unansehnliche, stacheldrahtbewehrte Betonmauer, aber auch das wird sich richten, sobald sie mit Efeu bewachsen ist. Dann ist er vollkommen, der Traum der Familie Höß.
Wie dreht man im Jahr 2024 einen Film über das verheerendste Verbrechen der Neuzeit? Die Shoah wurde bereits in vielerlei Gestalt filmisch rezipiert, u.a. in preisgekrönten Meisterwerken wie Schindlers Liste, Der Pianist und Son of Saul. Sollten überhaupt noch Filme gedreht werden, welche das Leid Millionen ermordeter Jüd:innen und Angehöriger anderer verfolgter Gruppen künstlerisch verarbeiten? Der britische Regisseur Jonathan Glazer nähert sich diesem Themenfeld in seinem ersten Film seit dem avantgardistischen Sci-Fi-Meisterwerk Under the Skin von einer gänzlich anderen Seite: The Zone of Interest schildert den banalen Alltag der Familie des Auschwitz-Kommandanten Höß. Niemals wagt die Kamera einen Blick ins Innere des Vernichtungslagers. Dessen Insassen sind nur als stumme Randfiguren zu sehen, in Form von Bediensteten der Höß'. Und doch ist das Grauen allgegenwärtig. Knochenfragmente treiben im Fluss, Asche bedeckt die Blütenblätter und nachts glüht der Himmel vom Feuer der Krematorien.
Und inmitten dieser Hölle auf Erden, auf der anderen Seite des Stacheldrahtes, errichtet sich die Familie Höß ihr eigenes, persönliches Paradies. Während Papa Rudolf (Christian Friedel) sich als "fleißiges Bienchen" hingebungsvoll um seine "Arbeit" kümmert und stets nach neuen Wegen zur Optimierung sucht, kümmert sich seine Frau Hedwig (Sandra Hüller) um Haushalt, Garten und ihre drei Töchter und zwei Söhne. Das Grauen hinter der Mauer lässt die Familie Höß nicht an sich heran, trotz des unaufhaltsamen, rhythmischen Grollens der Krematorien und gelegentlicher Schreie und Schüsse. Schließlich führen sie ein glückliches und erfülltes Leben. "Wir haben alles, was wir uns je erträumt haben direkt vor unserer Haustür", sagt Hedwig in einer Szene zu Rudolf. Nur einer von zahlreichen Sätzen, die das Publikum erschaudern lassen im Angesicht einer solchen Menschenverachtung. Hier offenbart sich die Genialität von Glazers (freier) Verfilmung von Martin Amis' Roman Interessengebiet: Vordergründig passiert wenig Spannendes, das meiste Gezeigte könnte sich so ähnlich auch in vielen anderen Familien abspielen. Doch im Kontrast zu den abscheulichsten Gräueltaten, die in unmittelbarer Nähe stattfinden, erscheint die Banalität des Familienalltags zutiefst menschenverachtend und zynisch. Und immer wieder werden Textzeilen gesprochen, bei welchen man unwillkürlich zusammenzuckt, wie wenn ein Kindermädchen die Höß-Sprösslinge mit dem Ruf "Gas, Gas, Gas" antreibt.
Dank der streng geometrischen Bildkompositionen des polnischen Star-Kameramanns Łukasz Żal, welcher bereits mit Paweł Pawlikowski und Charlie Kaufman drehte, hat man stets das Gefühl, eine groteske Versuchsanordnung zu beobachten. Oder eine schauerliche Kunstinstallation. Oder den trostlosesten Wes-Anderson-Film aller Zeiten. Die Kälte und Präzision der Bilder tragen ebenso zum Unwohlsein bei wie die grandiose Tonspur, auf welcher der Schrecken des Vernichtungslagers omnipräsent ist. Und die wenigen Szenen, in welchen der Wohnsitz Höß verlassen wird und der Film eine Perspektive außerhalb der Familie einnimmt, sind durch Nachtsicht-Filter und Synthesizer-Klänge komplett verfremdet und erlauben so keinen Distanzaufbau zur Nazi-Familie. The Zone of Interest ist erbarmungslos, ein Film, der einen den Glauben an die Menschlichkeit verlieren lässt und kein Entkommen gestattet.
Die Familienoberhäupter werden dabei hervorragend verkörpert von zwei Ausnahmetalenten der deutschen Schauspielkunst. Auf der einen Seite steht Sandra Hüller, spätestens seit ihrer kürzlichen Oscar-Nominierung für Anatomie eines Falls in aller Munde. Ihre Hedwig ist eine Person, der man niemals begegnen möchte, vordergründig zwar eine typische Hausfrau und Mutter, allerdings innerlich zerfressen von der menschenfeindlichen Ideologie des Faschismus. Auf der anderen Seite Christian Friedel (bekannt aus Das weiße Band und als Sänger von "Woods of Birnam"), dessen Rudolf einerseits liebevoller Familienvater mit sanfter Stimme ist, andererseits Architekt der Massenvernichtung, der Menschen nur als "Ladung" sieht, derer es sich zu entledigen gilt. Allein schon die nüchterne Sachlichkeit, in welcher am Anfang ein Ingenieur seinen Entwurf für ein verbessertes, effizienteres System von Krematorien präsentiert, schockiert zutiefst und es setzt ein Gefühl der Beklemmung ein, welches den ganzen Film über nicht nachlassen wird. Und auch wenn der Film im letzten Drittel teilweise den Schauplatz Auschwitz verlässt, kann man als Zuschauer kaum durchatmen. Berlin liegt zwar weit fernab von Auschwitz, der Einblick in die sogenannte "Inspektion der Konzentrationslager" vermittelt jedoch einen Eindruck für das wahre Ausmaß des Grauens der NS-Vernichtungsmaschinerie. Auch hier zeigt sich wieder: Die Nazis waren keine monströsen Hollywood-Schurken, sondern Bürokraten und Ingenieure, Hausfrauen und Familienväter. Und tagtäglich sieht man sich (gerade in Ostdeutschland) damit konfrontiert, dass faschistisches Gedankengut noch immer nicht aus der Welt ist. So ist The Zone of Interest auch ein brandaktueller Film, indem er uns daran erinnert, zu welchen Schreckenstaten Menschen in einer faschistischen Gesellschaft in der Lage sind und wie wichtig es ist, die Demokratie gegen verfassungsfeindliche Strömungen zu beschützen.
Bei den diesjährigen Oscars ist The Zone of Interest in fünf Kategorien nominiert: Bester Film, Beste Regie, Bestes adaptiertes Drehbuch, Bester Ton und Bester Internationaler Film (eingereicht vom UK). Letzteren Preis dürfte der Film mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnen und auch eine Auszeichnung für den Ton wäre mehr als verdient, trägt die Tonspur doch bedeutend zur beklemmenden Stimmung des Filmes bei. Nicht zuletzt auch dank der genialen Filmmusik von Mica Levi, welche zwar sehr sparsam eingesetzt wird, aber dennoch (oder gerade deshalb) einen enormen Eindruck hinterlässt. Insbesondere das Stück, welches während des Abspanns ertönt, ließ mich angsterfüllt im Kinosaal zusammenrutschen. Geräusche wie aus den tiefsten Höllenschlunden über einer rhythmischen, sich stetig wiederholenden Basslinie. Ein wahrlich "böses" Musikstück, welches den perfekten Abschluss bildet für diesen Film. Ein schockierendes Meisterwerk, das ich niemals wieder sehen möchte. Aber auch ein Film, den man unbedingt (und insbesondere im Kino!) erlebt haben sollte.