Na, hing der heimische Kinokalender mal wieder schief? Wacht ihr erneut gen Jahresende auf, schweißgebadet, mit reuigen Gedanken? Geht nicht zur Beichte, kommt zu uns!
Gerade, wenn man sich unserer vorzüglichen Lichtspielstätte verschrieben hat, kommen die Neuerscheinungen manchmal zu kurz. Zwischen ganz vielen „Ach ja, der lief ja jetzt auch schon an…“ und „Verdammt, den wollt‘ ich auch noch...“ hat unser Blogteam trotzdem munter für euch das Feld gesichtet. Und ja, auch wir haben Barbenheimer im Dickicht entdeckt. Aber es gab auch Schneedecken mit toten Ehemännern und Herbstlaub mit verliebten Finnen. Wenn ihr also das Gefühl habt, 2023 wieder mal das Beste verpasst zu haben, fürchtet nicht! Legt euch lieber mit’m Laptop aufs Bärenfell vor dem Kamin, stellt die heiße Schokolade griffbereit. Hier kommt unser traditionelles Jahres-Best-of, nur für euch! Denn seid Gewiss: Das KiK liebt euch mehr als Santa.
Oppenheimer (Lukas)
Auch im Kino war die Pandemie dieses Jahr vorbei. Während man bei den Filmstarts des vergangenen Jahres noch ein paar Nachwehen der Coronakrise spüren konnte, stellte sich 2023 endlich wieder als vollwertiges Kinojahr dar. Mit einem breit aufgestellten Filmangebot, welches von deutschem Arthaus (u.a. mit Roter Himmel und Das Lehrerzimmer) über internationale Produktionen (wie Fallende Blätter und Anatomie eines Falls) bis hin zu megalomanischen Blockbuster-Spektakeln (wie John Wick Chapter 4, Guardians of the Galaxy Vol. 3 und Indiana Jones 5) für vielerlei Geschmäcker etwas geboten haben dürfte. Und auch wenn die Blockbuster des Jahres insgesamt eher enttäuschend waren, sowohl finanziell als auch qualitativ, gab es doch so viele gute bis herausragende Filme, dass ich insgesamt positiv auf das Kinojahr 2023 zurückblicke. Jedenfalls war es gewiss das bislang Beste seit Beginn der Pandemie. So könnte ich mühelos eine Top-30-Liste von Filmen aufstellen, die ich sehr gerne im Kino gesehen habe.
Dabei begann das Jahr schon äußerst stark, mit den deutschen Kinostarts einiger Oscar-Nachzügler, wie Todd Fields' brillantem Dirigenten-Psychogramm TÁR und Steven Spielbergs semi-autobiografischem Familienporträt Die Fabelmans, beide in meiner Jahres-Top-5, sowie Sarah Polleys Oscar-prämiertem Kammerspiel Women Talking. Ein Geheimtipp war dann im März Rye Lane, eine unglaublich sympathische und frisch erzählte Romcom aus England, die leider keinen Kinostart bekam, sondern direkt auf Disney+ veröffentlicht wurde. Meine Lieblingskomödie des Jahres, Emma Seligmans lesbische Action-Highschool-Satire Bottoms, erblickte leider ebenso nicht das Licht der Leinwand, sondern erschien hierzulande direkt bei Amazon.
Auch das Animationskino war dieses Jahr so stark, wie ich es selten zuvor erlebt habe, mit dem mitreißenden Anime Suzume, dem herrlich rotzigen „Ninja Turtles“-Reboot Mutant Mayhem, der erfrischenden Netflix-Produktion Nimona (mit Non-binary-Subtext) und meinem Highlight, Spider-Man: Across the Spider-Verse. Eine Fortsetzung, die ihren schon famosen Vorgänger noch toppt, und einen knallbunten Bilderrausch sondergleichen bietet, der zwar oft die Grenze zur Reizüberflutung überschreitet, dessen Filmemacher aber auch verstanden haben, an welchen Stellen das Tempo zu drosseln ist. Eine visuelle Mammutleistung voller Kreativität, abgerundet durch die großartige, dynamische Filmmusik von Daniel Pemberton.
Zwischen den eher weniger erfolgreichen Hollywood-Großproduktionen der ersten Jahreshälfte und den Kritikerlieblingen der Festivalsaison in den spätere Monaten gab es jedoch ein kinematografisches Großevent, welches nicht nur die Finanzlage vieler Lichtspieltheater gehörig aufgebessert hat, sondern auch bei Publikum und Kritik einen starken Eindruck hinterlassen hat und in Kürze wohl auch die Oscars aufmischen wird. Ein gemeinsamer Kinostart, welcher zunächst die Studiobosse von Warner und Universal zum Schlottern brachte, von dem beide Filme aber letztlich profitiert haben, nicht zuletzt durch zahlreiche Memes und einen beispiellosen Internethype. Die Rede ist natürlich von Barbie und Oppenheimer, kurz: "Barbenheimer".
Ich muss zugeben, dass ich im Vorfeld große Zweifel an Barbie hatte, aber dank Greta Gerwig und Noah Baumbach hinter der Kamera doch gespannt war, was für einen Film die beiden Indie-Ikonen aus der Marke gemacht haben. Und am Ende war ich blendend unterhalten, insbesondere dank Ryan Goslings urkomischer Performance als Ken, auch wenn ich mich mit Gerwigs vorangegangenen Filmen, Lady Bird und Little Women, etwas mehr identifizieren konnte.
Während ich Barbie also tatsächlich gelungen fand, gewann doch Oppenheimer für mich den qualitativen Wettstreit in diesem unfreiwilligen Double Feature. Keine große Überraschung, bin ich doch seit jeher großer Fürsprecher von Christopher Nolan und zähle Interstellar und The Prestige zu meinen Lieblingsfilmen. Und doch fühlte ich vor dem Kinostart eine gewisse Ungewissheit. Schließlich hatte sich Nolan mit seinem Vorgängerfilm Tenet in einem konfusen Zeitlinien-Gimmick verrannt und einen seltenen Fehltritt erlaubt. Außerdem wagte er sich mit Oppenheimer erstmals an ein nicht-fiktionales Sujet und drehte eine Filmbiografie. Doch schon die ersten Trailer zerstreuten meine Sorgen. Göranssons Filmmusik klang vielversprechend, van Hoytemas Bilder imponierten mir in ihrer Größe und der erste Blick auf Cillian Murphy ließ einen Karrierehöhepunkt des irischen Charakterdarstellers erahnen.
Und all dies bewahrheitete sich schließlich. Nicht nur, dass Oppenheimer inszenatorisch zweifelsohne Christopher Nolans herausragendste Arbeit darstellt, er ist für mich auch der beste Film des Jahres und einer meiner bisher liebsten Filme dieser Dekade. Und nicht nur die Kritik, auch das Publikum war begeistert. Wer Nolan nicht kennt, wird sich vermutlich wundern, wie die Biografie eines Atomphysikers fast eine Milliarde Dollar einspielen und in Deutschland über 4 Millionen Zuschauer ins Kino locken konnte. Doch beim Schauen das Filmes wird das schnell verständlich. Christopher Nolan bleibt seinem Stil nämlich an vielen Stellen treu und inszeniert J. Robert Oppenheimers Lebensgeschichte als waschechten Blockbuster. In einem wahnsinnigen Tempo etabliert er die mehreren nebenläufigen Zeitlinien (ein weiteres seiner Markenzeichen) und böse Zungen mögen meinen, die erste Dreiviertelstunde erinnere an einen „was bisher geschah“-Zusammenschnitt, mit ihren schnellen Schnitten und häufigen Zeitsprüngen und Ortswechseln. Immer wieder sieht man in Effektaufnahmen umherschwirrende Partikel, dazu wummert eine imposante Filmmusik, in welcher Ludwig Göransson viel auf Polyrhythmik und Tempowechsel setzt (so sorgt ein stetig zunehmendes Tempo für Spannung). Obwohl ich diesen Stakkato-Filmschnitt im Trailer-Stil auch zunächst etwas befremdlich fand und froh war, dass Nolan im zweiten Akt das Tempo drosselt, muss ich zugeben, dass der Film dadurch eine große Dynamik und Sogwirkung entwickelt. Der zweite Akt in Los Alamos gestaltet sich dann im Stil eine Heist-Filmes, mit dem Ziel, die Atombombe vor den Nazis zu entwickeln. Genretypisch ergeben sich Probleme und Hürden, die es zu überwinden gilt. Am Ende steht schließlich die turmhohe Nuklearexplosion des Trinity-Tests, visuell und vor allem akustisch eindrücklich in Szene gesetzt.
Und doch ist es der dritte Akt, der mich am meisten gefesselt hat. Wendepunkt ist ganz klar Oppenheimers Rede in Los Alamos nach dem Abwurf der Bombe auf Hiroshima, in welcher Nolan sich deutlich vom bisherigen Blockbusterstil entfernt und sogar ungewohnt experimentell wird. Eine Szene wie eine Panikattacke, mit grellem Licht, erdrückendem Sound und desorientierendem Tonschnitt, welche das Publikum mit ihrer surrealen, subjektiven Inszenierung in die Lage Oppenheimers versetzt und mit ihrer emotionalen Wucht erschlägt. Ich habe mich in dem Moment jedenfalls so gefühlt wie Devon Bosticks Charakter, welcher sich vor der Mehrzweckhalle übergibt. Doch nicht nur aufgrund der effektiven Inszenierung beeindruckte mich die letzte Stunde des Filmes, auch inhaltlich war ich schwer angetan, einerseits von den hochspannenden, stark geschriebenen Wortgefechten, andererseits von der deutlichen Kritik an der amerikanischen Kommunistenjagd der 50er-Jahre. Das ist dann nicht nur aufwühlend und mitreißend, sondern auch Schauspielkino par excellence, mit einem phänomenalen Cillian Murphy und einem Robert Downey jr., der so gut spielt wie seit Jahren nicht mehr. Eine wahre Wohltat, ihn wieder in einer Charakterrolle zu sehen, nach zahlreichen Auftritten als Marvel-Superheld Iron Man. Sowieso ist der Film bis in die kleinsten Nebenrollen glorios besetzt, u.a. mit Emily Blunt, Benny Safdie (ein echter Szenendieb!), Matt Damon, Josh Hartnett, Jack Quaid, Tom Conti (sehr empathisch als Einstein), David Krumholtz, Kenneth Branagh, Jason Clarke, Dane DeHaan und Gary Oldman. Nur die Auftritte von Matthias Schweighöfer und Rami Malek haben mich etwas irritiert, da ihr markantes Spiel sich für mich nicht nahtlos in den Film eingefügt hat. Und Florence Pugh, eine der stärksten Darsteller:innen ihrer Generation, wird leider fast komplett verschenkt, da ihre kleine Rolle wenig Potential zum Schauspiel bietet und die Tragik ihrer Geschichte kaum zum Ausdruck kommt. Allgemein ist Oppenheimer naturgemäß ein sehr maskuliner Film geworden, in welchem sich Anzug und Hut tragende Akademiker und Politiker verbale Schlagabtausche liefern.
Doch mich hat das alles wenig gestört, da ich wirklich gut mitgerissen wurde. Schließlich ist Oppenheimer auch irgendwo das Avengers: Endgame im Dark-Academia-Look für Naturwissenschaftsnerds. Hier kommt kein Comicheld zum Cameo ins Bild, sondern Oppie trifft beim Waldspaziergang Einstein und Kurt Gödel. Und hinter einem wegfahrenden Auto taucht nicht etwa Jason Bourne oder Ethan Hunt auf, sondern unser schnauzbärtiger Lieblingsphysiker himself. Diesen Film zusammen mit einem Mathematiker und einem Physiker im Kino zu schauen hat mir jedenfalls noch ein paar neue Perspektiven eröffnet. Und dann ist da schließlich noch das Ende des Filmes, welches in meinen Augen Nolans absoluter Geniestreich ist. Oppenheimers letzte Dialogzeile, gepaart mit Cillian Murphys reuevollem Gesichtsausdruck, den symbolschwangeren Bildern und der imposanten Filmmusik bildet einen Abschluss, der seinen Weg in die Filmgeschichte schaffen wird. Ein Glück, dass ich den Film nicht als erste Hälfte eines "Barbenheimer"-Abends geschaut habe. Das Gesehene musste ich erst mal verdauen.
Fallende Blätter (Zoe)
Aki Kaurismäki ist einer dieser Regisseure, an denen man eine ganz spezielle Sorte Cineasten erkennt. Sie lauern einem in Coffeeshops auf, und während die angezündete Kippe in ihrer Hand zu Asche wird, zuppeln sie an ihrem Rollkragenpullover und schwärmen von Kaurismäki. Mir schmeckt Espresso nicht und mein Pulli-Game ist nicht so stark, aber auch ich bin prätentiös genug, um vom wohl bekanntesten finnischen Filmer gehört zu haben.
Freilich habe ich nicht die Frühwerke oder Kurzfilme gesehen, auf die sich solch lobhudelnde Monologe beziehen. Genau genommen habe ich nur Das Mädchen aus der Streichholzfabrik von 1989 begutachtet, der wirklich richtig super und super deprimierend ist. Das Wissen, das ich mir über den Kaurismäki-Kanon ansonsten erarbeitet habe, ist wie folgt: Der durchschnittliche Kaurismäki hat eine 70er-Jahre-Optik und verfolgt häufig Charaktere aus der Arbeiterklasse, die selten starke Gefühle veräußern, deren Handeln aber ziemlich starke Gefühle beim Publikum inspiriert. Ein Happy End ist fast nie in Sicht.
Damit bleibt er sich in Fallende Blätter halbwegs treu, überrascht aber mit Humor, Optimismus und Romantik. Und das in Zeiten des Krieges! Deshalb vermeldet ein sperriges Radio auch stetig Neues aus der Ukraine. Mobiltelefone finden nun statt. Aber ansonsten müssen wir nicht zu viele Veränderungen in der finnischen Farbpalette fürchten: Die Menschen tragen noch urige Lederjacken und Polyesterkleidchen, visuell erinnert alles ein bisschen an Antonioni. In einem Helsinki voller Baukräne, Konservendosen und Eckkneipen lernen sich Ansa und Holappa kennen.
Ansa (Alma Pöysti) lebt in einem winzigen Apartment, stockt Regale im Supermarkt auf und kann ihre Rechnungen nicht zahlen. Holappa (Jussi Vatanen) lebt in einem noch winzigeren Container, schuftet auf dem Bau und trinkt. Wir erkennen sie direkt als einsame Menschen, die in ihrem Leben noch nicht viel Glück erlebt haben. Und wer schon einmal schwere Arbeit für wenig Lohn und viel Monat mit wenig Geld bestreiten musste, wird sich in den Vignetten aus ihrem Leben wiedererkennen. Umso einfacher ist es, mit ihnen mitzufiebern, sobald der erste Kontakt einmal geknüpft ist. Wenn Holappa seinem einzigen Freund Huotari (Janne Hyytiäinen, bestechend in der humorvollsten Rolle des Films) berichtet, dass er diese Frau fast geheiratet hätte. Wenn Ansa mit spärlichsten Mitteln ein gemeinsames Abendessen vorbereitet. Die größte Anschaffung dafür ist ein zweites Set Geschirr. Zuvor aß sie immer allein.
Tragik und Komik geben sich in Fallende Blätter wirklich die Klinke in die Hand. Der Film greift einige beliebte Rom-Com-Klischees auf, um ihnen mittels bekannter Kaurismäki-ismen einen neuen Anstrich zu verpassen. Vieles wirkt so überspitzt, die Reaktionen unserer Protagonisten auf das Geschehen so unterspielt, dass der Film eigentlich unwirklich wirken sollte. Stattdessen ist diese Welt, sind diese Charaktere entwaffnend authentisch. In Akten voll dramatischer Wendungen stellen sich dem Paar verlorene Telefonnummern, Kündigungen und Alkoholismus in den Weg.
Süchtige sind traditionell schwierige Rollen, da sie schnell frustrieren und unsympathisch werden. Jussi Vatanen spielt Holappa stets wie ein großes, verlorenes, aber liebenswertes Kind. Alma Pöysti, die man aus Tove (über Tove Jansson, Erfinderin der Moomins) kennen könnte, ist der perfekte Gegenpart: klein, geerdet und mit einer stillen Stärke. Und noch subtilerem Schelm. Weil wir mit ihnen lachen konnten, möchten wir auch die ganze Zeit mit ihnen weinen. In der Hoffnung, dass auf Regen doch noch Sonnenschein folgen möge.
Freilich kann man davon ausgehen, dass Fallende Blätter sich mit seinen Referenzen an Filme vergangener Tage, Primärfarben, finnischem Schlager und Indie-Pop des Duos Maustetytöt anbiedert. Zumindest bei Hipstern wie mir. Und das mag wohl Teil des Ganzen sein. Aber für Geschichten über einfache Leut‘ wie diese und ihre Sehnsüchte wurde das Kino gemacht. In einer Sequenz wartet Holappa nächtelang, passenderweise vor einem Kino, in der Hoffnung, dass das Schicksal Ansa zu ihm treibt. Wer verliebt sich da nicht glatt mit?
Past Lives (Carl)
Besondere Filme können es schaffen, kulturelle Grenzen zu überwinden und erreichen dadurch einen hohen Grad an Universalität – ohne dabei jedoch das spezifische Gefühl für individuelle Erfahrungen zu verlieren. Past Lives ist solch ein besonderer Film für mich, mit dem ich einen meiner schönsten Kinomomente des Jahres 2023 verbinde.
Im Kern dreht sich die Handlung dieser US-amerikanisch-südkoreanischen Koproduktion um Na-young, welche im Alter von zwölf Jahren von ihren Eltern dem heimatlichen Seoul entrissen und mit nach Kanada genommen wird, um dort ein neues Leben zu beginnen. Als Frau von 24 Jahren findet sie sich als Dramaturgie-Studentin in New York City wieder, mittlerweile unter dem amerikanisierten Vornamen Nora (und von Greta Lee großartig verkörpert). Die Sozialisierung im nordamerikanischen Kontext hat ihre Entwicklung zu einer jungen, selbstbestimmten Erwachsenen entscheidend geprägt, aber dann wird sie, scheinbar ganz plötzlich, von ihrer koreanischen Vergangenheit eingeholt. Ganz konkret wird diese Rückbesinnung durch ein Wiedersehen mit Hae-sung ausgelöst (als Erwachsener ebenso eindrücklich von Teo Yoo gespielt). Nora entdeckt ihren Freund aus Kindertagen, der in Südkorea geblieben ist und mittlerweile sogar wieder bei seinen Eltern lebt, zufällig im Internet und es entwickelt sich zwischen den beiden so etwas wie das seichte Wiedererwachen einer Jugendliebe, die nie wirklich eine war.
Die uneindeutige Vielschichtigkeit der gezeigten Interaktionen ist wahrscheinlich die größte Stärke von Past Lives – alles entfaltet sich als Potenzial auf der Leinwand, nichts ist fest in Stein gemeißelt. In drei Altersstufen werden die Aufeinandertreffen zwischen Na-young/Nora und Hae-sung nachgezeichnet und ihr Verhältnis zueinander, sowie die damit verknüpften Emotionen, vorsichtig abgetastet, schrittweise entblättert. Sie werden im Alter von 12, 24 und 36 Jahren gezeigt, wodurch der Film eine strukturelle Dreiteilung erfährt - wobei der erste Teil im Jugendalter vergleichsweise kurz ausfällt und der Übergang zwischen den beiden Erwachsenenaltern derart fließend und subtil ist, dass man schon ganz genau aufpassen muss, um ihn nicht zu verpassen. Noch komplexer wird das Beziehungsgeflecht, als sich Nora von der unklaren Fernbeziehung mit Hae-sung abwendet, sich in den Schriftsteller Arthur (deutlich zurückhaltender als Lee und Yoo, aber toll von John Magaro dargestellt) verliebt und diesen auch heiratet, bis schließlich auf der dritten Ebene alle drei Figuren im Alter von 36 Jahren aufeinandertreffen und mit den sich daraus ergebenden Komplikationen umgehen lernen müssen.
Der Regisseurin Celine Song und ihrem Filmteam ist es gelungen, aus einer facettenreichen Dreierkonstellation, die im üblichen Hollywood-Schema zu allen möglichen Dramatisierungen geführt hätte, ein kontemplatives, traurig-schönes, aber auch witziges filmisches Manifest für gegenseitiges Verständnis, offenherzige Kommunikation und ehrliche Beziehungsarbeit in jeglicher Hinsicht zu erschaffen. Dabei geht es nicht darum, für welchen der beiden Männer sich Nora letztlich entscheidet, ihre Empfindungen sind diesbezüglich klar. Vielmehr verhandelt Past Lives, wofür Noras unterschiedliche, aber jeweils tiefe Gefühle für Hae-sung und Arthur wirklich stehen und was diese unterschiedlichen Gefühlsebenen mit ihr machen. Es geht um die Prägung durch unterschiedliche Kulturkreise, welche mit der Zeit nicht einfach verschwindet, sondern sich stetig weiterentwickelt. Es geht um die Erfahrung, dass die Entscheidungen der eigenen Eltern weitreichende Auswirkungen auf das eigene Leben haben, mit denen man im Prozess des Erwachsenwerdens irgendwie zurecht kommen muss. Es geht darum, in einer Beziehung akzeptieren zu lernen, dass die jeweils andere Person mit einer Vergangenheit daherkommt und entscheidend durch diese geprägt ist.
Es geht in diesem ruhigen Film also um Dinge des Lebens, die so universell wie persönlich verschieden sind und darin mit einem hohen Maß an Glaubwürdigkeit inszeniert werden. Die Kameraarbeit fängt das Schauspiel der wenigen Darsteller:innen zurückhaltend, diskret beobachtend ein und drängt sich zu keinem Zeitpunkt in den Vordergrund. Stets wird die Privatsphäre der Figuren gewahrt und akzeptiert, dass hier nur ein kurzer Einblick in ihre vielschichtige Existenz gewährt werden kann. Besonders eindrücklich zeigt sich dieser Fakt in einer Art einrahmenden Auftaktsequenz zu Beginn des Films, in der fremde Menschen in einer Bar einen neugierigen Blick auf Nora, Hae-sung und Arthur werfen und miteinander darüber spekulieren, in welchem Verhältnis die drei denn zueinander stehen könnten. Am Ende des Films wissen wir als Zuschauer:innen schon deutlich mehr darüber, unter anderem durch das Beobachten eben jener Barszene aus anderer Perspektive, sind uns aber dennoch darüber bewusst, lediglich an der Oberfläche gekratzt zu haben. Stattdessen sind wir mit Einsetzen des Abspanns wieder auf unsere eigene Lebensrealität zurückgeworfen und können uns, im Idealfall, mit einem uns lieben Menschen über das Gesehene austauschen und gemeinsam darüber reflektieren. So war es jedenfalls für mich, bei einem meiner schönsten Kinobesuche des Jahres, bei dem ich noch weit über das Ende von Past Lives hinaus sitzen geblieben bin und mich über diesen wunderbaren Film unterhalten habe.
Weitere Favoriten des deutschen Kinojahres 2023 waren für mich der epische Dokumentarfilm Notre corps der französischen Regisseurin Claire Simon, welcher einen schonungslosen und atemberaubenden Blick auf den Krankenhausalltag von FLINTA-Personen wirft, sowie natürlich auch der großartige Spielfilm Anatomie eines Falls der ebenfalls französischen Regisseurin Justine Triet, welcher die schmerzhafte Offenlegung von Familiendynamiken vor Gericht in Folge eines Todesfalls, sowie die alles überragende Sandra Hüller inszeniert.
Wes Andersons Kurzfilme: The Wonderful Story of Henry Sugar, The Swan, The Rat Catcher und Poison (Dana)
Einen Anfang zu finden, um über Wes Anderson und vier Teile seines Werks zu schreiben, ist keine leichte Aufgabe; Ganz besonders dann nicht, wenn im Jahr 2023 zwischen Filmen wie Barbie (Greta Gerwig), Oppenheimer (Christopher Nolan), Indiana Jones und das Rad des Schicksals (James Mangold) usw. in den Kinos konkurriert wird. Dennoch bin ich Wes Anderson zuliebe bereit, mich hinzugeben und zu schwelgen in einem meiner Jahreshighlights.
Tatsächlich bin ich ein heißblütiger Verfechter der Wes Anderson-Filme und seiner fast schon absurd starken Obsession mit Roald Dahl und seinen märchenhaften Geschichten. Es macht auf mich den Eindruck, dass Anderson vermutlich der am besten geeignete Künstler ist, um sich an eine Visualisierung der Dahl-Geschichten zu wagen. Im Sommer 2023 focht er bei den Filmfestspielen in Cannes erst mit Asteroid City um die Goldene Palme, um dann im September die nächste Spitze in Kooperation mit Netflix zu liefern. Wes Andersons Fiebertraumfabrik, mit ihren krassen Farbpaletten, zwanghaft parallelen Szenendarstellungen und seinen einzigartig verpeilten Figuren sind mir ein Bedürfnis, sodass es nicht überrascht, dass ich auch von den vier Kurzverfilmungen sehr überzeugt bin. Absolut nicht sollte man die vier Filme einzeln von gut nach schlecht bewerten; Viel lieber sehe ich die Geschichten, Handlungen und Figuren als Teil einer absurden Welt, die jemand einem Publikum visuell zugänglich gemacht hat und die nicht zum Schwarz-weiß-bewerten da ist.
Der erste Film der vier, die um den 27. September erschienen sind, ist The Wonderful Story of Henry Sugar, mit Starbesetzungen wie Benedict Cumberbatch, Ben Kingsley, Dev Patel, Ralph Fiennes uva. Gleich bei diesem ersten Teil ist die auffällige Narration entscheidend für die Wirkung, die der Film auf mich hatte. Die vierte Wand ist scheinbar nicht existent. Ralph Fiennes spricht als Roald Dahl, in seiner kleinen Hütte sitzend und eine Hornbrille tragend, direkt zum Zuschauer, als würde man die Geschichte direkt von ihm vorgelesen bekommen. Alle Figuren sprechen so direkt zur Zuschauer:in, dass man den Eindruck erhält als selbständige Instanz Teil der Geschichten zu sein. Auch die Kulissen werden, wie auf einer Theaterbühne, mit jeder Szene vor laufender Kamera getauscht, gedreht und ersetzt. Andersons Fähigkeiten, als Regisseur geordnetes Chaos hervorzurufen und auch erneut mit Konventionen des modernen Kinos zu brechen, sind nicht zu leugnen.
Genauso bannend geht es nach Henry Sugars Gierexkurs weiter mit The Swan, The Rat Catcher und Poison. Alle diese Kurzfilme haben die Gemeinsamkeit, dass der Erzähler (teils als Roald Dahl verwirklicht von Ralph Fiennes) immer selbst als Figur vorzukommen scheint. Regieanweisungen, ganze Dialoge und Monologe gehen so von ihm aus.
Objektiv betrachtet sind alle diese Filme wenig spektakulär. Sie sind eher kurze Parabeln ohne zu Tränen rührender Pointe. Allein die Sinnebene und die Bildebene stehen dabei im Vordergrund, die Wes Anderson so schön ästhetisch inszeniert hat. Meine durch so viel Detail und Liebe zur Requisite schon überreizten Augen wurden dann zusätzlich noch mit Lichteffekten dramaturgisch bereichert. Besonders in The Rat Catcher und Poison war das bisweilen notwendig, um die Atmosphäre überhaupt zu dramatisieren.
Dennoch sind alle vier Teile dieses Portfolios einzigartig und für sich extrem vielseitig. Vor allem The Swan mit Rupert Friend als Erzähler war sehr einprägsam, da man am Ende erfährt, dass die Story teilweise auf wahren Begebenheiten beruht. Natürlich fragt man sich, inwieweit der kleine Peter Watson die Metamorphose zum Schwan wirklich vollzogen hat, aber sich vorzustellen, dass jemand zu solchen Handlungen gezwungen wurde, ist eine Gänsehautsituation, an die sich Wes Anderson heranwagt.
Der klare Star in den Filmen ist für mich Ralph Fiennes, der in den vier Teilen alle möglichen Figuren personifiziert. Es scheint, als wäre er gemacht worden, um komische und überspitzte Rollen in Wes Andersons Werken zu verkörpern. Wie immer schnitzt sich Anderson aber alle Schauspieler zurecht, wie er sie braucht, sodass am Ende eine perfekte Collage entsteht. Kein Muss, aber eine ästhetische Spitze, die sich lohnt.
Post Scriptum: Wie man später erfährt, hat Netflix keine Kosten gescheut, um sowohl Wes Anderson ins Boot zu ziehen als auch um sich die Rechte der Dahl-Geschichten anzueignen. Dabei sind von Summen um die 1 Milliarde Dollar die Rede, was viermal so hoch ist wie das, was Amazon für die Teilrechte an Tolkiens Herr der Ringe bezahlt hat. Zu erwähnen ist darüber hinaus, dass Anderson sich gegen eine politisch korrekte Anpassung der Dahl-Geschichten ausspricht. In seinen Kurzfilmen möchte er stattdessen zeigen, inwieweit man diese politisch korrekt visualisiert, ohne dabei zu viel vom Charakter des Autors wegzustreichen.
Anatomie eines Falls (Olli)
Eines der schönsten Privilegien als Kinobetreiber ist es, auf Filmfestivals zu dürfen, um bereits Filme des kommenden Kinojahres zu begutachten. (Irgendwoher muss man ja schließlich wissen, was man zeigen will!) Darum ist meines absolutes Filmhighlight des Jahres 2023 eigentlich ein Film, der erst im Februar nächsten Jahres anläuft. Am 29.02.2024 startet in den deutschen Kinos der neue Jonathan Glazer: The Zone of Interest. Glazer schafft es mit diesem Film das Genre der Holocaustdramen auf den Kopf zu stellen. Da wir uns beim Jahresrückblick jedoch nach dem deutschen Kinostartdatum richten, darf ich erstmal (noch) nicht weiter ins Detail gehen. Nur soviel sei gesagt, mein Favorit für den nächsten Jahresrückblicksartikel steht bereits fest. Also stay tuned!
Nach diesem kurzen Werbeblock können wir uns meinem zweiten Lieblingsfilm des Jahres widmen: Das französische Justizdrama Anatomie eines Falls von Justine Triet. Mit der Goldenen Palme von Cannes im Gepäck sowie der Arthausklischee-Werbeaussage schlechthin, „bereits über eine Millionen Zuschauer in Frankreich“, waren meine Erwartungen schon recht hoch. Ein Glück konnten sie eingelöst werden.
Gemeinsam mit ihrem Sohn Daniel (gespielt von Milo Machado-Graner) und Ehemann Samuel (Samuel Maleski) wohnt die erfolgreiche Autorin Sandra Voyter (Sandra Hüller) im idyllischen Holzhaus in der französischen Alpenregion bei Grenoble. Nach einem Spaziergang mit seinem Blindenhund Snoop findet Daniel seinen Vater mit aufgeschlagenem Kopf tot in der Einfahrt. Samuels Fall in den Tod wirft Fragen auf, da unklar ist, ob es sich um Unfall, Suizid oder Totschlag handelt. Da Sandra als Einzige zum Todeszeitpunkt im Haus ist, wird Anklage erhoben. Ihr altbekannter (und erstaunlich gutaussehender) Anwaltsfreund Vincent Renzi (Swann Arlaud) kommt zur juristischen Unterstützung. Es folgt eine akribische Rekonstruktion des Falls. Der Rest des Films beschäftigt sich mit dem Gerichtsprozess, einem schmierigen Staatsanwalt (Antoine Reinartz), welcher einen fiesen Gegenspieler zu Sandras Verteidigung vor dem Geschworenengericht bildet.
Die eingeschränkte Sicht der Justizwelt auf die reale Welt zu erleben hat seine eigene Faszination. Es reicht von Unverständnis für die Normabweichungen einer komplizierten Beziehung bis hin zu skurillen Szenen zur Deutung von literarischen Textpassagen, welche Lesekreisatmosphäre im Gerichtssaal aufkommen lassen. Schön bitter fühlt sich auch die Festlegung der Prozesssprache aufs Französische an, was eine zusätzliche Hürde für die deutsche Sandra bildet, welche sich nun fremdsprachlich durch den Prozess kämpfen muss. Fraglich bleibt mir allerdings, wie solche Nuancen in der deutschen Synchro verarbeitet werden. Hervorgehoben sei an dieser Stelle dafür der etymologischer Glücksgriff des deutschen Titels. Die schöne Mehrdeutigkeit funktioniert erstaunlicherweise nur im Deutschen.
Der Film ist unglaublich packend erzählt, haargenau wird jede Aussage analysiert und bereits Gesehenes hinterfragt. Nur scheibchenweise erfahren wir Neues, zum Beispiel setzt sich ein Bild von Samuels Persona erst nach und nach durch Beweismittel und Zeugenaussagen zusammen, welche ihm zum Höhepunkt sogar bildlich die Worte in den Mund legen. Die inszenatorische Stärke schafft es beim Zusehen den Blick einer:s Geschworenen zu vermitteln. Das persönliche Urteilspendel über Sandras Schuld oder Unschuld schwingt dabei nach jeder neuen Aussage ins andere Extrem. Ebenso schwankend ist der musikalische Kampf zwischen der wiederkehrenden Klaviermusik von Chopin und Albéniz und dem Rapsong P.I.M.P. von 50 Cent in einer instrumentalen dauer-betönenden Bangerversion. Die Kamera ist ebenso intensiv und geht schön dicht an die Charaktere und hält bei Monologen lange auf die Gesichter, um jede kleine Emotionsregung einzufangen. Wer Sandra Hüllers Gesicht schon immer mal in ganz nah erleben wollte kommt hier auf seine Kosten!
Anatomie eines Falls hat es geschafft, mich von der ersten Minute an zu fesseln und in seinen erstaunlich kurzweiligen 2,5-Stunden-Bann zu ziehen. Ebenso wie Film und Regisseurin, wurde Sandra Hüller mit ihrer vielschichtigen Performance zurecht mit verschiedensten Filmpreisen überschüttet. (Oft sogar gleich im Doppelpack nominiert mit ihrer Rolle in The Zone of Interest). Als andere lobende Erwähnung sei auch noch Wim Wenders neuer Film Perfect Days genannt, ein liebevoll inszeniertes Portrait eines älteren Toilettenreinigers in Tokio, welches bei mir einen persönlichen Sweetspot getroffen hat.
Das Filmjahr 2023 trägt für mich jedoch eindeutig den Namen Sandra Hüller!
Dies könnte ihre Werbefläche sein! (Anne)
Das Jahr geht zu Ende und alle machen ihre Top-Listen: Top-Bücher, Top-Musik, Top-Spiele, Top-Filme. Und ich sitze hier und mir fällt wie immer nichts ein. Das liegt zum einen daran, dass ich nicht mal mehr weiß, was gestern war, aber zum anderen auch, dass ich jetzt aus 100 gesehenen Filmen einen Favoriten wählen soll. Puh. (Disclaimer: Zum Zeitpunkt des Schreibens steht Film 100, The Boy and the Heron (der neue Ghibli!), noch aus - ich wette, er wird ziemlich weit oben in (m)einer dieser Top-Listen erscheinen!)
Ich stöbere also durch meine Letterboxd-Liste und schreibe mir alle 2023 Filme raus. Da hätten wir die typischen Marvel-Filme (Ant-Man and the Wasp Quantumania (meh), Guardians of the Galaxy Vol. 3 (tränenreich) und The Marvels (ganz ok)), Disney-Filme, die ich, statt ins Kino zu rennen, lieber gemütlich auf Disney+ geschaut habe (A Haunting in Venice (mochte ich sehr), Haunted Mansion (Owen Wilson einfach beste), Elemental (joa), Little Mermaid (neee)) und die Filme, die ich alle auf der Berlinale sehen durfte (unter anderem: Das Lehrerzimmer, TAR, Suzume, The Fablemans, Infinity Pool, Seneca und mein Favorit Hummingbirds). Natürlich sah ich auch Barbenheimer, den Mario-Film, den DnD-Film und den Eras Tour Film von Taylor Swift. Über was schreibe ich denn aber nun?
Meinen Favoriten habe ich noch gar nicht genannt, denn das ist und bleibt wohl Spider-Man: Across the Spiderverse. Obwohl mich Teil 1 mehr berührt, mehr umgehauen, mehr geschockt hat (wegen der grandiosen Animation!), kann ich als Spider-Fan doch nicht anders, als den zweiten Teil auch sehr zu feiern.
Ja, er fühlt sich nicht fertig an, weil er eher der Auftakt für das Finale ist. Ja, die Novelty der unglaublich tollen und neuen Animation ist etwas verflogen. Ja, die Story lässt in gewisser Weise zu wünschen übrig. Dennoch: Die Musik hat mich monatelang begleitet, das Artbook flatterte direkt zu mir und zugegebenermaßen ist (fast) alles, wo Oscar Isaac drin involviert ist, einfach toll.
Lohnt es sich also, einen Jahresendartikel über Spiderverse zu schreiben? Weiiiiiß ich nicht.
Vielleicht habe ich gar kein Jahreshighlight. Vielleicht ist mein Filmgeschmack so flatternd wie Herbstblätter im Sturm. Vielleicht sind „Favoriten“ total stimmungsabhängig. Vielleicht kann ich extrem begeistert von Suzume sein und am nächsten Tag (quite literally) einen komplett anderen Film genauso stark feiern. Vielleicht fand ich dieses Jahr auch Anthony Perkins-Filme highlight-worthy. Vielleicht ist mein armes Gehirn geschunden von schlechten Hallmark-Netflix-Rot-Grün-Weihnachtsromanzen, die scheinbar alle von ChatGPT geschrieben worden sind. Vielleicht steht mein Highlight auch einfach noch aus: The Boy and the Heron von Hayao Miyazaki.
Roter Himmel (Amrei)
[in my mind von Wallners beginnt zu spielen]
Während sich die winterliche Kälte durch jede Wollschicht bis zu den Knochen durchkämpft, ist es Roter Himmel von Christian Petzhold, der bei regnerisch-grauen Tagen an die Hitze des Sommers erinnert.
Mit dem ersten Satz („Irgendwas stimmt hier nicht“) bringt es Felix (Langston Uibel) auf den Punkt. Eigentlich wollten er und sein Freund Leon (Thomas Schubert) das Familien-Ferienhaus an der Ostsee als kreatives Exil nutzen. Dass die beiden sich das Haus mit Nadja (gespielt von der wunderbaren Paula Beer) teilen müssen, war nicht so geplant. Während Felix sich schnell mit der Situation anfreundet, hat Leon Schwierigkeiten. Statt sich am gemeinschaftlichen Leben zu beteiligen, versucht Leon fast zwanghaft die prätentiöse Rolle des immerzu schaffenden Autors aufrechtzuerhalten. Die Zeit im Sommerhaus macht er sich damit selbst madig. Wie unleidlich er sich dabei auch Felix, Nadja und ihrem Anhängsel Devid (Enno Trebs) gegenüber verhält, fällt ihm selbst auf.
Während das ruhige Chaos innerhalb der Viererkonstellation die Leinwand einnimmt, passiert die eigentliche Katastrophe zunächst im Hintergrund: Der Waldbrand ist zwar immer wieder Thema, aber als Bedrohung wird er zu spät erkannt. Und so erscheint der glühend rote Himmel mitten in der Nacht, trotz Nadjas „Macht Angst, oder?“, fast romantisch und weniger bedrohlich. Obwohl Leon ihr das bestätigt und Devid von der Unkontrollierbarkeit des Feuers erzählt, wiegen sich alle vier in Sicherheit. Ehrfürchtig blicken sie auf den gewaltig schönen Anblick des brennenden Waldes.
In Roter Himmel ist es nicht das Gesprochene, sondern vielmehr die Lücke zwischen den Worten, die das Drama sehenswert macht. Der Film traut und lässt zu. Das Unausgesprochene erlaubt den Zuschauenden gerade genug eigenes Weiterdenken, ohne dabei zu überfordern. Es ist die Gestaltung der oft sprachlosen Charaktere, die Blickdynamiken erlaubt, aber nicht bis zur Erschöpfung ausschöpft. Während der ganzen Bewegtbildzeit nimmt Leon eine distanzierte Rolle ein. An die empathischen Beziehungen der anderen drei kommt er nicht ran. Bei den Gesprächen am Abendessen bleibt er anteilslos, bzw. teilt er lieber seinen Unmut mit. Obwohl die Kamera mit dem Fokus auf ihm bleibt, verstehen die Zuschauenden die anderen. Die Sympathie, welche für Leon teilweise kaum aufbringbar ist, lässt sich ohne Probleme auf Nadja, Felix und Devid übertragen. Um so tragischer ist die Handlung. Um so unvergesslicher ist der Blickwechsel am Filmende.
Das romantische Drama wirkt nach, hinterlässt ein mulmig melancholisches Gefühl. Beim Schauen (egal ob Kamera, Zuschauende oder Leon) bekommt die ganze Szenerie etwas Irreales. Die Leinwand erinnert an eine Traumwelt. Eingenommen wird die Rolle der Beobachtenden, nicht erreichbar scheint die der Handelnden. Der Film schafft eine Distanz, die einen im Laufe der Spielzeit einholt. Denn der Fiktion gelingt eine fast widersprüchliche, aber nicht abstreitbare Brücke zur Realität. Es ist die Realität einer Klimakatastrophe, einseitiger Liebe und Verlust, die aufgezeigt wird. Trotz gewaltiger Themen ist Roter Himmel nie zu viel und kann eine tiefe Ruhe bewahren. Als dann im Abspann das gleiche Lied wie am Anfang zu spielen beginnt, lässt sich die ein oder andere Träne kaum vermeiden.