Wenn man in die Sneak geht, muss man auf alles gefasst sein. Mal laufen künftige Oscargewinner, wie Green Book, dann wieder versenkt Matthias Schweighöfer ein Atom-U-Boot. Das Sommerloch macht sich allerdings auch im Sneakprogramm bemerkbar. Umso mehr freut man sich also nach belanglosem Kino-Fastfood, wie Stuber oder I Am Mother, wenn zuerst das Logo von Weltkino, dann das des amerikanischen Independent-Heilsbringers A24 über die Leinwand flimmern und einem bewusst wird, dass man gleich in den Genuss von Ari Asters Hereditary-Nachfolger Midsommar kommen wird.

Mit seinem Spielfilmdebüt hatte Aster sein Talent als Regisseur im letzten Jahr bereits eindrücklich unter Beweis gestellt und einen der unbequemsten Horrorfilme dieses Jahrzehnts geschaffen. In Hereditary gelang ihm bravourös der Balanceakt zwischen übernatürlicher Schauergeschichte und auslaugendem Familiendrama, wobei letzteres sogar der schockierendere Teil des Filmes ist, nicht zuletzt dank der hervorragenden darstellerischen Leistung von Toni Collette, die in einer gerechten Welt alle Darstellerpreise des letzten Jahres gewonnen hätte. Collettes animalischer Schrei unerträglichen Schmerzes und das zugehörige Bild der Tragödie, welche die Handlung des Filmes ins Rollen bringt, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt, wie wenige Filmszenen zuvor. Dementsprechend hatte ich großen Respekt davor, Midsommar zu sehen, da ich fürchtete, dass Aster wieder Bilder und Geräusche präsentieren wird, von denen man sich später wünscht, sie nicht erlebt zu haben. Soviel kann ich schon vorweg nehmen: Midsommar ist mindestens genauso kompromisslos wie sein Vorgänger.

Danis Reaktion spiegelt meine Gefühle beim Schauen des Filmes wieder. © Weltkino

Nach einem tragischen Schicksalsschlag beschließt Dani (Florence Pugh), sich ihrem Freund Christian (Jack Reynor) anzuschließen, der zusammen mit zwei Kommilitonen von seinem schwedischen Freund Pelle (Vilhelm Blomren) zu einem einzigartigen Mittsommerfest nach Hälsingland eingeladen wird. Während Sprücheklopfer Mark (Will Poulter) nur scharf auf Drogen und Schwedinnen ist, wittert der Anthropologie-Doktorand Josh (William Jackson Harper) Stoff für seine Abschlussarbeit. Im abgelegenen Dorf Hårga angekommen werden die Besucher mit befremdlichen Traditionen konfrontiert. Bald wird klar, dass es sich beim "Midsommar" nicht nur um ein harmloses Volksfest handelt.

Die ungeschönte Darstellung tragischster Ereignisse, sowie der resultierenden Reaktion der Betroffenen scheint mittlerweile zu Asters Markenzeichen geworden zu sein. Schon im (buchstäblichen) Cold Opener des Filmes konfrontiert der Regisseur sein Publikum mit Bildern und Geräuschen, die bei mir solch ein Unwohlsein hervorgerufen haben, dass ich kurz skeptisch war, wie ich denn die folgenden zwei Stunden unbeschadet überstehen soll. Glücklicherweise malträtiert Aster die Zuschauenden nicht durchgängig mit deprimierenden Inhalten, sondern lockert den Film des Öfteren durch Anflüge von Situationskomik oder makaberem Humor auf. Die amerikanischen Touristen werden in eine ungewohnte Umgebung geworfen und ihre Reaktionen auf die eigenwilligen Gebräuche, sowie das Verhalten der Kultisten selbst, sorgten beim Sneak-Publikum mehrfach für hörbare Erheiterung. Diese Entscheidung macht den Film zwar etwas leichter verdaulich, sorgt aber auch dafür, dass er sich teilweise tonal etwas unausgegoren anfühlt. Insbesondere wenn der Film im späteren Verlauf einige Gewalttaten präsentiert, welche durch ihre Detailliertheit und ihren Realismus die FSK-18-Einstufung des Filmes rechtfertigen, wirkt es befremdlich, wenn die fiese Stimmung direkt danach humoristisch gebrochen wird. Diese Befremdlichkeit mag durchaus beabsichtigt sein, könnte weniger aufgeschlossene Zuschauende allerdings irritieren. Dass einige Szenen etwas abrupt enden und ein paar Erzählstränge nicht gänzlich befriedigend aufgeklärt werden, könnte im, mit 171 Minuten fast eine halbe Stunde längeren Director's Cut, welcher in einigen US-Kinos vorgeführt wurde, eventuell behoben sein. Da die Kinofassung durch die erwähnten Mängel manchmal etwas holprig erzählt wirkt, bin ich sehr gespannt darauf, den Director's Cut zu sichten, sollte er in Deutschland veröffentlicht werden.

Välkommen hem! Ein freundlicher Empfang? © Weltkino

Wer erwartet, dass es sich bei Midsommar um einen mehr oder weniger klassischen Horrorfilm handelt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit enttäuscht werden. Ich würde ihn keinesfalls im Horror-Genre verorten, vielmehr handelt es sich bei dem Film um ein abgründiges Drama mit Mystery-Elementen. Die Stimmung mag teils echt unangenehm sein, einige Bilder sind verstörend und werden mich wohl noch eine Weile verfolgen. Doch inszenatorisch ist der Film meilenweit fernab klassischer Horror-Konventionen. Das beginnt schon damit, dass der Film, sobald sich die Protagonisten in Schweden befinden, aufgrund der Mitternachtssonne nur bei Tageslicht spielt. Jump Scares oder andere typische Schockeffekte wird man vergebens suchen, genau wie der Aufbau einer Schauer-Stimmung mittels unheimlicher Filmmusik. Die herausragende musikalische Untermalung von Bobby Krlic schwankt hingegen eher zwischen ätherisch-getragen oder gar episch-triumphierend, auch wenn mitunter dissonante Harmonien hervorbrodeln. Eine perfekte Untermalung für die idyllischen Bilder der scheinbar friedlichen, schwedischen Kommune. Überhaupt ist der Film visuell höchst bemerkenswert. Die Kostüme der Kultisten, die faszinierenden Kulissen, betont strahlend-helle Bilder, sowie einige eigenwillige Kameraperspektiven sorgen für einen der hübschesten Genrefilme der letzten Jahre. Darüber hinaus bleiben von inszenatorischer Perspektive vor allem die ausführliche Darstellung psychedelischer Drogentrips, die (auch wenn mir die Erfahrung fehlt, um dies adäquat beurteilen zu können) sehr glaubhaft wirkt, sowie die Fokussierung auf Blüten und andere botanische Bildersymbolik in Erinnerung. Letztere zu interpretieren kann interessierten Zuschauenden sogar mitunter neue Sichtweisen auf die jeweiligen Charaktere eröffnen.

Apropos Interpretation: Midsommar ist insgesamt ein symbolisch stark aufgeladener Film. Fast jede Szene präsentiert Elemente, welche vom Publikum analysiert werden können. Interessant sind z.B. die Anleihen an den Zauberer von Oz (Ari Aster bezeichnete Midsommar gar als "Wizard of Oz for perverts"). Vergleichbar mit Andrzej Żuławskis Possession nutzt Ari Aster die Mittel des Genrefilmes um bestimmte Themen metaphorisch abzuhandeln, in diesem Fall Verlust, Trauerbewältigung, sowie die Trennung einer schädlichen Beziehung. Wie tief der Film dabei in die schmerzerfüllte Psyche der Protagonistin eindringt, ist bemerkenswert. Klares Herz des Filmes ist eindeutig die überwältigende Leistung der jungen Hauptdarstellerin Florence Pugh (Lady Macbeth, The Little Drummer Girl). Lange hat mich keine Performance mehr so begeistert wie ihre Darstellung, welche mich von der ersten Szene des Filmes aufgrund ihrer Glaubhaftigkeit sofort in ihren Bann gezogen hatte. Spätestens wenn sich schließlich im weiteren Verlauf Danis unterdrückte Gefühle in einer kathartischen Szene entladen, wurde mir klar, dass es sich bei Pugh um eine der talentiertesten Schauspielerinnen ihrer Generation handelt. Ich bin gespannt, wann sie ihre erste Oscar-Nominierung bekommen wird, lange wird es wohl nicht sein. Auch die anderen Rollen sind gut besetzt, sei es mit Will Poulter, der wohl nicht dem Typecasting als (Comic-Relief-)Arschloch entfliehen kann oder mit William Jackson Harper, dessen Anthropologie-Doktorand stark an seine Rolle als Philosophie-Professor Chidi Anagonye in der Serie The Good Place erinnert. Auch Jack Reynor überzeugt als Danis manipulativer und verständnisloser Partner und verkörpert diesen charismatisch genug, damit die Beziehung zwischen Dani und Christian für das Publikum nachvollziehbar wirkt.

Sommerferien in einem paganischen Kult: Ein Heidenspaß © Weltkino

Midsommar ist ein eigenwilliger Film. Wie sehr man sich auf die ungewöhnliche Inszenierung, die lange Laufzeit von 147 Minuten, die drastischen Bilder, den makaberen Humor und die ungeschönten Emotionen einlassen können wird, dürfte sich zwischen verschiedenen Kinogängern stark unterscheiden. Massentauglich ist der Film zumindest nur bedingt, dafür aber hochkreativ und künstlerisch herausragend. Filmfans, welche abseitigerer Kost nicht abgeneigt sind, sei Midsommar sehr ans Herz gelegt.