Es ist Juli und bundesweit öffnen Lichtspielhäuser nach beinahe einem Dreivierteljahr Corona-Pause wieder ihre heiligen Hallen. Halleluja! Filmfans verschiedenster Vorlieben frohlocken und freuen sich auf frische Filmkunst. Direkt in der ersten Juliwoche starteten unzählige neue Kinofilme, von den Oscar-Gewinnern Nomadland und Judas and the Black Messiah über den Monsterklopper Godzilla vs. Kong und den Horror-Schockern Possessor und The Conjuring 3, bis hin zum deutschen Sci-Fi-Liebesfilm Ich bin dein Mensch (von Olli hier in seiner Filmkritik besprochen). Da dürfte für jeden was dabei sein, geht also in die Kinotempel eurer Wahl und unterstützt eure Lieblingskinos nach der langen Pause!

Neben den Indoor-Kinos gibt es aber auch Open-Air-Vorführungen, in Dresden sogar gleich mehrere, wie das vorzügliche "Sommerkino auf der HSZ-Wiese" (eine Kooperation von Kino im Kasten und Sachgebiet Campusleben der TU) und die Filmnächte am Elbufer, welche mit dem 1. Juli ihr Filmprogramm begonnen haben. Doch den furiosen Anfang machte in diesem Jahr die Berlinale, eines der weltweit bedeutendsten Filmfestivals und das namhafteste in Deutschland. Während die Filmfestspiele üblicherweise mit hunderttausenden Zuschauern im Februar stattfinden (und somit als einziges Filmfestival 2020 noch von Corona unbehelligt ausgetragen werden konnten), wurde die diesjährige 71. Ausgabe zweigeteilt: Während Anfang März das "Industry Event" online für Kritiker und Branchenmitglieder stattfand, gab es für das Publikum vom 9. bis 20. Juni das "Berlinale Summer Special". Dessen Austragung stand bis zuletzt auf der Kippe, insbesondere als dann noch um Ostern die dritte Corona-Welle über Deutschland schwappte. Schließlich fiel die Entscheidung, das "Summer Special" ausschließlich Open Air zu veranstalten, an zahlreichen Standorten in und um Berlin, mit limitierten Ticketzahlen, viel Abstand und Testpflicht.

Als Filmfan auf Kinoentzug kam für mich natürlich nicht in Frage, dass ich mir das entgehen lasse. Abgesehen von einer Pressevorführung zum Berlinale-Gewinner Bad Luck Banging or Loony Porn, welcher hier im Blog demnächst besprochen wird, war die Berlinale das erst Mal seit Oktober, dass ich einen Film auf der Leinwand geschaut habe. Und vor allem das erste Mal wieder mit Publikum. Man meint gar nicht, was ein gut aufgelegtes Publikum ausmachen kann, doch dazu später mehr. Zunächst war ein großes Problem des Open-Air-Konzeptes, dass die Filme nachvollziehbarerweise erst deutlich nach Sonnenuntergang beginnen können, also meist kaum vor 22 Uhr. Da man so nur einen Film pro Tag schauen kann und ich nur zwei Abende in Berlin war, habe ich demnach leider nur zwei Filme schauen können. Nun hat man natürlich die Qual der Wahl. Wenn man nur zwei Filme an aufeinanderfolgenden Tagen schauen kann, welche wählt man dann aus? Eine Entscheidung war schnell getroffen: Petite Maman von der großartigen Regisseurin Céline Sciamma (Porträt einer jungen Frau in Flammen)! Da man für den Film Wheel of Fortune and Fantasy von Ryusuke Hamaguchi am Folgetag offenbar online keine Karten kaufen konnte und aus Angst, dass die raren Berlinale-Tickets schnell ausverkauft sind, entschied ich mich beim zweiten Film kurzfristig für die norwegische Tragikomödie Ninjababy.

Ninjababy handelt von der 23-jährigen Rakel, welche ihr Kunststudium geschmissen hat und gerne Comiczeichnerin wäre. Als Rakel ungewollt schwanger wird, vermutet sie erst, dass der sympathische Aikido-Trainer Mos der Vater ist. Bei einer Ultraschalluntersuchung wird jedoch festgestellt, dass ihre Schwangerschaft deutlich weiter fortgeschritten ist, als angenommen. Nun findet sich Rakel in einer schwierigen Situation: Mutter möchte sie nicht werden, für eine Abtreibung ist es zu spät und mit dem Gedanken, ihr künftiges Kind zur Adoption freizugeben, kann sie sich auch nicht anfreunden. Zu allem Überfluss ist der Vater des Kindes der nichtsnutzige "Pikkjesus" (zu Deutsch "Schwanz-Jesus"), ein langhaariger, bärtiger Kiffer, der jegliche Verantwortung abstreitet.

Bei Ninjababy, dem zweiten Spielfilm der Regisseurin Yngvild Sve Flikke handelt es sich um eine Verfilmung des Comics Fallteknik. Während der Titel der Comic-Vorlage sich auf die Fallschule im Aikido bezieht, handelt es sich bei dem titelgebenden "Ninjababy" nicht nur um einen Fötus, der unbemerkt heranwächst, sondern auch um einen Charakter innerhalb des Filmes. In Rakels Vorstellung erwacht ihre Comic-Figur des maskierten Ninja-Fötus zum Leben und führt mit ihr Zwiegespräche, wodurch Rakels Ansichten zutage gebracht werden (z.B. ist auch Ninjababy nicht gerade überzeugt von der Tatsache, dass Pikkjesus sein/ihr Vater sein soll). Auch an anderer Stelle wird der Film durch Animationen im Stil von Rakels Comic-Zeichnungen angereichert, beispielsweise wenn in der Interaktion von Rakel und Mos wortwörtlich Funken fliegen. Insbesondere durch das Stilmittel der animierten Elemente sticht Ninjababy hervor, aber auch durch die gute Hauptdarstellerin Kristine Kujath Torp und einen erfreulich unverkrampften Umgang mit Sexualität. Insgesamt ist der Film flott inszeniert, unterhaltsam und einfühlsam und hat eine Protagonistin, welche teils auch unsympathisch und konfrontativ, aber dadurch authentisch wirkt. Die Nebencharaktere, wie Rakels Schwester Mie, ihre Mitbewohnerin Ingrid und auch "Aikido-Mos" bleiben allerdings recht oberflächlich und der sprechende Fötus ist wohl Geschmackssache und kann auf Dauer auch nerven.

Doch für die Location und das Publikum war Ninjababy der perfekte Film. Die Vorführung fand auf der Freilichtbühne Weißensee statt, durch die Nähe zum See und die aufgestellten Liegestühle kam angenehmes Sommer-Feeling auf. Die Vorführung hat dann auch viel Spaß gemacht. Es gab eine fachkundige Einleitung vom Programmdirektor der Sektion "Generation", ein kurzes Video-Grußwort von Regisseurin, Hauptdarstellerin und der Nebendarstellerin Tora Christine Dietrichson (Ingrid) und das Publikum hatte spürbar Laune mit dem Film. Es gab viele Lacher und sofort mit Einsetzen des Abspanns Jubel und Applaus. Genau wegen dieser Atmosphäre liebe ich Filmfestivals. Und so macht Open-Air-Kino auch am meisten Spaß!

Da hätte sich die Vorführung von Petite Maman am Folgetag eine Scheibe abschneiden können. Zugegeben, für die zahlreichen Mücken, die nahegelegene Bahnstrecke und Lärm durch Polizeisirenen und Hubschrauber konnten die Veranstalter nichts. Allerdings hätte der Mitarbeiter der Freilichtbühne sich ruhig über den Film informieren können, der gleich gezeigt wird, zumal es sich um einen der höchstgelobten Beiträge der diesjährigen Berlinale handelte! Dazu kam, dass der Projektor schlecht auf die Leinwand ausgerichtet war, welche als aufblasbare Leinwand durchgängig leise zischte, und die Stühle, welche unter Einhaltung der Abstandsregeln im Publikumsbereich verteilt wurden, einfach über die Tribünenbänke gehängt wurden, wodurch sie bei jeder Bewegung kippten und knarzten.
Nach einer sehr gelungenen ersten Vorführung folgte nun also ein zweiter Abend, an welchem ziemlich viele Nachteile von Open-Air-Vorführungen zusammenkamen. Ein Glück also, dass es sich bei Petite Maman um einen Film handelt, welcher sämtlichen Vorschusslorbeeren gerecht wird. Bei so einem schönen Film vergisst man glatt alle widrigen Gegebenheiten.

Der Film handelt vom 8-jährigen Mädchen Nelly (Joséphine Sanz), welche nach dem Tod ihrer Großmutter mit ihren Eltern in deren Haus fährt, um es auszuräumen. Aus Langeweile erkundet sie den umliegenden Wald, in welchem schon ihre Mutter als Kind gespielt, und aus Ästen eine kleine Hütte gebaut hatte. Im Wald trifft Nelly auf die gleichaltrige Marion (Gabrielle Sanz), mit welcher sie sich anfreundet. Als sie in einen Regenguss geraten, begleitet Nelly Marion nach Hause und muss feststellen, dass es sich bei Marions Haus um das Haus ihrer Großmutter handelt, nur etwa 25 Jahre in der Vergangenheit – und bei Marion um ihre Mutter.

Mit Petite Maman ist Céline Sciamma abermals ein wunderschöner Film gelungen, welcher derzeit zu meinen Highlights des Jahres 2021 zählt, woran sich bis zum Ende des Jahres bestimmt kaum etwas ändern wird. Mit einer Laufzeit von gerade einmal 72 Minuten könnte man denken, dass es sich bei dem Film um ein weniger bedeutsames Werk im Schaffen der Ausnahme-Regisseurin handelt. Trotz der geringen Spieldauer ist der Film jedoch hochinteressant. Das Zeitreisekonstrukt, welches dem Film zugrunde liegt, hätte auch genutzt werden können, um eine bedrohliche Situation aufzubauen, Sciamma hat sich jedoch entschieden, ihren Film ohne unnötige Dramatik auskommen zu lassen. So ist Nelly nicht etwa gefangen in der Vergangenheit, sondern kann durch einen Pfad im Herbstwald frei zwischen den verschiedenen Zeiten wandeln. Vielmehr wird das Zeitreisen genutzt, um die Beziehungen zwischen den verschiedenen Generationen der Familie zu ergründen. Wenn Nelly sich mit ihre kindlichen Mutter anfreundet und die Beziehung zwischen Marion und ihrer Mutter (Nellys Großmutter), der von Nelly und ihrer erwachsenen Mutter gegenübergestellt wird, ist das ein Zeitreise-Mindfuck, der deutlich einfühlsamere Züge annimmt, als das der Fall gewesen wäre, hätte ein Christopher Nolan die Geschichte verfilmt.

Klar, im Film spielt auch die Trauer um die verstorbene Großmutter eine Rolle, sowie die Beziehung zwischen Marion und ihrer Mutter, die offenbar nicht immer einfach war. Doch im Film überwiegen positive Gefühle: ein wunderschön sonniger Herbstwald in warmen, goldenen Farbtönen, das arglose Auftreten der Kinderdarstellerinnen (im echten Leben Schwestern) und ihre liebenswerte Freundschaft, eine warme Tasse Kakao um sich nach dem Regenguss wieder aufzuwärmen. Petite Maman ist ein Film zum Nachdenken, aber auch zum Wohlfühlen. Ich freue mich schon darauf, den Film erneut zu sehen, wenn er ab dem 11. November regulär in deutschen Kinos laufen wird. Diesmal in einem bequemen Kinosessel ohne widrige Open-Air-Gegebenheiten.

Wer jetzt Lust hat, sich bei sommerlichem (hoffentlich trockenem) Wetter Filme unter freiem Himmel anzusehen, sei herzlich zu unserem Sommerkino auf der HSZ-Wiese eingeladen. Am 23. Juli wird hier als letzter Film unserer Reihe The Rider (von Oscar-Gewinnerin Chloe Zhao!) gezeigt, wie immer mit freiem Eintritt!