Los Angeles, November 2019: Ein Moloch aus Smog und Regen. Fliegende Autos gleiten durch scheinbar unendliche Straßenschluchten. Aus Industrieschornsteinen stoßen in regelmäßigen Abständen Flammen, während sich im Zentrum der Stadt majestätisch der Pyramidenstumpf des Tyrell Buildings erhebt. Nur hier, hoch über den Slums der Stadt, hat man noch die Möglichkeit, den Hauch eines Sonnenstrahls zu erhaschen. Während sanft der ikonische Synthesizer-Klangteppich von Vangelis anschwillt, spiegelt sich diese (alb)traumhafte Zukunftsmetropole im Auge des Betrachters.
Das Auge gehört Rick Deckard (Harrison Ford), einem sogenannten Blade Runner, einem Polizeibeamten, der Jagd auf entflohene oder rebellierende Replikanten macht. In dieser Zukunftsvision sind Replikanten die Sklaven der Menschheit, artifizielle, biomechanische Organismen, angefertigt von der Tyrell Corporation, um anstrengende Arbeiten unter widrigen Bedingungen auszuführen, wie z.B. die Kolonisierung neuer Welten. Werbezeppeline und Lautsprecherdurchsagen versprechen ein neues, besseres Leben auf den Off-world Colonies, eine Möglichkeit dieser heruntergewirtschafteten, zerstörten Welt zu entfliehen, einer Welt, welche keine Natur mehr kennt, in welcher Haustiere zu den luxuriösesten Gütern überhaupt gehören.
Replikanten sind Lebewesen ohne Rechte. Aufgrund ihrer überlegenen Physis und Intelligenz wurde ihre Lebenszeit auf vier Jahre begrenzt, um zu verhindern, dass sie irgendwann den Menschen verdrängen. Doch sind Replikanten nicht auch empfindungsfähige Lebensformen mit Gefühlen und Ängsten? "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" fragt der Titel der Romanvorlage von Philipp K. Dick. Spätestens wenn Rutger Hauer in seiner Rolle als Replikantenführer Roy Batty zum legendären "Tears in Rain"-Monolog ansetzt, sollten jegliche Zweifel beseitigt sein.
Blade Runner ist ein Klassiker philosophischer Science-Fiction, der typische Fragen darüber stellt, was Menschlichkeit bedeutet. Wie kann ein Replikant nicht als Lebewesen anerkannt werden, wenn er über eine emotionale Tiefe verfügt, welche die des trägen, lethargischen Protagonisten Deckard weit übersteigt? Doch darüber hinaus ist der Film auch ein stilbildendes Meisterwerk, welches das visuelle Vokabular des Cyberpunk-Subgenres geprägt hat, wie kaum ein anderer Film. Eine dystopische Zukunftsmetropole, Technikgadgets die mehr nach Eigenbau, als Hochglanz aussehen, asiatische Einflüsse (seien es Geishas auf gigantische Reklamebildschirmen oder fliegende Chop-Suey-Dschunken) und ganz viel Film Noir vermengen sich zu einer revolutionären Gesamtästhetik. Gerade die Protagonisten, der Trenchcoat tragende Detektiv Rick Deckard und Rachael, die stilvoll gekleidete Femme Fatale mit 40er-Jahre-Haarwelle, könnten glatt einem klassischen Hollywood-Krimi entsprungen sein. Nicht ohne Grund setzt Vangelis in seiner Filmmusik nicht nur auf Synthesizer, sondern auch auf jazzige Klavier- und Saxofonklänge.
Blade Runner ist ein Film, der sich stark von damaligen Sehgewohnheiten und Erwartungen an einen Sci-Fi-Film unterschied. In einer Zeit, in der die originale Star-Wars-Trilogie gerade das Blockbuster-Kino revolutioniert hatte und Spielberg mit E.T. einen knuddeligen Außerirdischen auf die Leinwand brachte, war die Nachfrage an äußerst langsam erzählter Erwachsenen-Sci-Fi entsprechend gering. Dazu kam, dass der Film nach negativen Testscreenings ein Happy End, sowie ein erklärendes Voiceover aus Sicht von Rick Deckard (gesprochen von einem sehr gelangweilten Harrison Ford) aufgedrückt bekam. Blade Runner war ein Flop, sowohl bei Kritikern, als auch an den Kinokassen, konnte jedoch in den kommenden Jahren auf VHS und Laserdisc eine große Fangemeinde erlangen und entwickelte sich zum Kultfilm. Durch den Director's Cut von 1992 und den Final Cut von 2007 konnte Ridley Scott einige Fehler, bzw. Diskrepanzen zu seiner ursprünglichen Vision ausmerzen, wodurch sich der Film endgültig als der Sci-Fi-Meilenstein manifestierte, als der er heute angesehen wird.
Bei der Ankündigung einer späten Fortsetzung kamen naturgemäß Zweifel auf. Wann war schon einmal eine Fortsetzung so gut, wie das Original, schon gar nach so langer Zeit? Wer erinnert sich schon noch an 2010: Das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen? Und Der Pate III konnte auch trotz Coppola nicht mehr an die früheren Meilensteine anknüpfen. Außerdem wurde Blade Runner 2049 zu einer Zeit angekündigt, als bereits andere Sci-Fi-Kultstreifen, wie Total Recall oder Robocop zu seelenlosen Popcorn-Reboots verwurstet wurden. Auch die Ankündigung, dass Ridley Scott zumindest als Produzent am Film mitwirkt, war angesichts seines aktuelleren Filmoutputs kein großer Hoffnungsschimmer.
Mut machte da schon vielmehr das Mitwirken von Denis Villeneuve. Dem Frankokanadier, welcher uns mit Prisoners lehrte, Hugh Jackman zu fürchten, welcher in Sicario stimmungsvoll in die Unterwelt mexikanischer Drogenkartelle abtauchte und welcher in Arrival Amy Adams den Erstkontakt mit Aliens aufbauen ließ und einen der einfühlsamsten und bildstärksten Science-Fiction-Filme des Jahrzehnts schuf. Der Ankündigungsteaser von Dezember 2016, in welchem Ryan Gosling zu Vangelis-esken Klängen durch den Schnee stapft vermochte es, die Vorfreude enorm zu erhöhen. Man bekam den Eindruck, dass es sich bei Blade Runner 2049 um ein Klassiker-Update handelt, von Leuten die tatsächlich verstanden haben, was die Genialität des Originals ausmacht.
Von der Story des Films, von Hampton Fancher (Autor des Vorgängers!) gemeinsam mit Michael Green ("American Gods", "Logan") verfasst, sollte man am besten wenig vorweg nehmen. Der Film spielt 30 Jahre nach dem Original im Jahr 2049. Nach dem Replikantenaufstand von 2022 übernahm die Firma von Niander Wallace (Jared Leto) den Markt mit einem Modell, welches kein Aufbegehren mehr gegenüber seinen Schöpfern entwickeln kann. Im Verborgenen lebende Replikanten, welche nicht zu diesem Typ Nexus 9 gehören, werden sukzessive von den verbleibenden Blade Runnern, wie z.B. Officer K (Ryan Gosling), seines Zeichens selbst ein Replikant, aufgespürt und terminiert. Bei einem Auftrag kommt K allerdings einem lang gehüteten Geheimnis auf die Spur, welches die Beziehung zwischen Mensch und Replikant komplett verändert.
Blade Runner 2049 ist vorrangig zunächst ein charaktergetriebener Film. Wir begleiten Officer K durch die gesamte Handlung und bekommen Offenbarungen präsentiert, die ihn (und uns) nachdenklich stimmen. Wer und was ist K? Handelt es sich bei seinen fragmentarischen Erinnerungen nur um die üblichen, konstruierten Bilder, wie sie alle Replikanten zur Persönlichkeitsbildung eingepflanzt bekommen? Oder steckt vielleicht doch mehr dahinter? Gemeinsam mit ihm erkunden wir seine Vergangenheit, lernen neue Informationen und sehen einen Charakter, dessen Welt- und Selbstbild gehörig ins Wanken gerät. Die Handlung bleibt unvorhersehbar und hält einige Wendungen parat, die nicht nur überraschend sind, sondern auch hochemotional. Officer Ks Charakter unterscheidet sich zweifellos stark vom Protagonisten des Vorgängers. Während Rick Deckard desillusioniert und lethargisch seinem Tageswerk nachgeht, ist K ein pflichtbewusster Polizist, der zunehmend daran zweifelt, ob das was er über Replikanten zu wissen glaubt, tatsächlich der Wahrheit entspricht.
Man sieht schon: Auch wenn Blade Runner 2049 ein aktueller Blockbuster mit großartigen Schauwerten und Millionendollar-Budget ist, wird das Drehbuch nicht vernachlässigt. Wie beim Vorgänger ist der Grundton auch hier wieder nachdenklich und philosophisch. In langen, behutsam aufgebauten Szenen, bekommt man nicht nur ein perfektes Gefühl für Architektur und Umgebung, sondern auch eine Gelegenheit, sich in Charaktere und Situationen hineinzufühlen. Durch Bild- und Tonkulisse entsteht ein Immersionsgrad, den ich selten zuvor im Kino erlebt habe. Wenn Officer K beispielsweise in einem verlassenen Fabrikgelände kurz davor ist, einen entscheidenden Hinweis über seine Existenz zu finden, zieht die Spannungsschraube gewaltig an, da man als Zuschauer die Bedeutsamkeit dieses Momentes eindrücklich zu spüren bekommt.
In diesem Kontext muss man natürlich unbedingt über die Bildsprache von Roger Deakins sprechen. Dem 14-fach Oscar-nominierten Kameramann, welcher das Zusammenspiel aus Licht und Schatten so sehr beherrscht, wie wohl kaum ein anderer Vertreter seiner Zunft. Für Sam Mendes filmte er mit Skyfall den bisher bildstärksten Bond-Film, als häufiger Kollaborateur der Coen-Brüder schuf er u.a. die kontrastreichen Schwarzweißbilder von The Man Who Wasn't There und zusammen mit Andrew Dominik entstanden seine wohl bisher schönsten Aufnahmen, für den Film mit dem umständlichen Titel The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford (Deakins' Expertise in Sachen schemenhafter Gestalten im Nebel ist hier besonders prominent). Doch was Roger Deakins, mit dem Villeneuve schon zuvor (z.B. bei Sicario) mit eindrucksvollen Ergebnissen zusammenarbeitete, für Blade Runner 2049 an Geschützen aufgefahren hat, übertrifft sogar seine bisherigen Arbeiten. Beinahe jedes Bild des Filmes ist ein wunderschönes, melancholisches Kunstwerk, welches man sich ohne weiteres einrahmen könnte. Bilder einer traurigen, einsamen Zukunft, ohne Wärme und mit nur wenigen Hoffnungsschimmern. Grauer Himmel und ein einsamer kahler Baum am Tag, bei Nacht ein Hausdach im Regen, dessen Tropfen im violetten Neonlicht unzähliger Leuchtreklamen funkeln. Und (in einer der tragischsten wie schönsten Szenen des Filmes) die Begegnung zwischen Officer K und einem gewaltigen, magentafarbenen Hologramm einer Frau. Blade Runner 2049 bietet Bildwelten für die Ewigkeit. Zurecht gewann Roger Deakins hierfür im vergangenen Jahr endlich seinen lang überfälligen ersten Oscar.
Seinen zweiten Oscar gewann der Film für die Spezialeffekte. Auch diesen Preis hat er sich redlich verdient, nicht nur für sein Zukunfts-L.A. (für welches viele Modellaufnahmen zum Einsatz kamen) oder die wuchtigen Wettereffekte des Schwaben Gerd Nefzer (bereits wieder engagiert für Villeneuves Neuverfilmung von Dune), sondern vor allem für eine CGI-Kreation, welches alles bisher dagewesene in den Schatten stellt. Ein komplett am Computer entstandener Mensch, welchen ich ohne Zweifel als real akzeptiert habe, passend zum Firmenmotto der Tyrell Corporation: "More human than human."
Zu guter Letzt sollte auch der Schnitt von Joe Walker (Arrival) nicht unerwähnt bleiben. Insbesondere die Montage zweier Szenen, einer Überblende von fliegenden Funken zu nächtlichen Lichtern der Stadt, sowie einer hochästhetischen Liebesszene, welche konzeptuell entfernt an Spike Jonze's Her erinnert, haben mich zutiefst beeindruckt. Gemeinsam mit der teils sanften, teils kraftvoll treibenden Synthesizer-Musik von Benjamin Wallfisch und Hans Zimmer entsteht so ein traumartiger Bilderfluss, der mich mit offener Kinnlade im Kinosessel staunen ließ.
Blade Runner 2049 ist ein Film, wie man ihn leider viel zu selten im Kino erlebt. Eine bildgewaltige Zukunftsvision, ruhig erzählt, mit glaubhaften, komplexen Charakteren und Mut zur Langsamkeit. In Zeiten, in denen Filme wie Bohemian Rhapsody Preise für ihr Schnittgewitter gewinnen und auch im Blockbustersegment Tempo und Wackelkamera einer nachvollziehbaren Bildsprache vorangestellt werden, wird man von einem angenehm entschleunigten Film wie diesem regelrecht in seinen Bann gezogen und in eine Art hypnotische Trance versetzt, sodass die 163 Minuten Laufzeit wie im Fluge vergehen.
Wer sich selbst von der Bildgewalt, der wuchtigen Soundkulisse und immersiven Kraft des Filmes überzeugen möchte, dem sei herzlich empfohlen, zu uns ins Kino im Kasten zu kommen, wo wir den Film am 4. April (deutsch) und am 9. April (englische OV) vorführen werden. Es lohnt sich!