"I'm not at all interested in who-done-its. If you conceal a character's guilt, you imply that his guilt is the most important thing about him. I want the audience to know who the murderer is, so that we can consider his personality." – Claude Chabrol, 1971

Hach, bald ist wieder Frühling in Deutschland. Die Sonne scheint, die Vögel singen und jede Parkanlage ist ein Tummelbecken für Paare, die sich bis jetzt nur drinnen befummeln konnten. Wenn ihr zu den Leuten gehört, die von Letzterem unheimlich genervt sind, ist mir bewusst, dass es etwas heikel werden könnte, euch einen Liebesfilm anzudrehen. Aber Obacht! Mit Der Schlachter von Claude Chabrol stelle ich heute eine der packendsten Romanzen vor, die mir je untergekommen ist. Es ist die klassische Geschichte von Junge trifft Mädchen, oder in diesem Fall Dorfschlachter trifft Lehrerin. Es funkt, aber so recht will sich das noch niemand eingestehen. Beide haben ja schließlich ihren Ballast zu schleppen, aber sie sind sehr bemüht, und das Happy End baumelt vor uns wie eine Karotte am Stöckchen. Vielleicht werden sie doch glücklich miteinander in der französischen Peripherie. Ich höre euch schon fragen: Ja, was ist da denn nun so toll daran? Das klingt nicht anders als viele andere Schmonzetten auch. Und was war das für ein Gefasel über Schuld am Anfang?

Nun, hier kommt der Haken: Die Gegend hat seit ein paar Wochen ein latentes tote-junge-Frauen-Problem; und weil Zuschauer:in und Frau Lehrerin eins und eins zusammenzählen können, ist schnell klar, dass unser Schlachter der Täter ist. Nein, das ist keine Finte, um den wahren Täter zu verschleiern und auch kein massiver Spoiler. Der Schlachter hat viele Überraschungen, aber die Täterschaft gehört nicht dazu, und das ist sehr Chabrol. Also muss ich nochmal etwas zurückspulen zu dem Zitat am Anfang und zu dem Regisseur, von dem’s stammt.

"Cool, ein Coupon für's Buffet!" Regisseur Chabrol (l.) mit den Hauptakteuren Audran (m) und Yanne (r).

Claude Chabrol, 1930 - 2010, war wahrlich einer von uns. Ihm gelang der Sprung vom jugendlichen Filmclubleiter zum Kritiker des renommierten Cahiers du Cinema und schließlich zum Regisseur. Diesen Sprung schafft er sogar noch vor Kollegen wie Truffaut, Godard, Rohmer und Rivette. Ausgerüstet mit seinen ausgefeimten Studien über Hitchcock und das Thriller-Genre macht Chabrol sich also auf, selbst spannende Streifen zu drehen. Um menschliche Abgründe soll es gehen, Kritik an der Bourgeoisie, Sex und Essen sind immer gut und ein verlässliches Ensemble ist noch besser. In späteren Filmen ist das unter anderen Isabelle Huppert. In jüngeren Tagen ist Stéphane Audran seine Muse und, tale as old as time, für über ein Jahrzehnt lang seine Ehefrau. Manchmal verpflichtet Chabrol ihren Exmann Jean-Louis Trintignant gleich mit, denn wenn man schon knifflige Beziehungskonstellationen thematisiert, kann man seine eigene auch gleich mit ans Set bringen.

Gerne lässt Chabrol sich von Gazetten alter und neuer Tage inspirieren: Filme wie Blutige Hochzeit (1973) Violette Nozière (1978) und Eine Frauensache (1988) basieren allesamt auf aufsehenerregenden französischen Kriminalfällen. Bei der Umsetzung seiner Projekte ist entscheidend, dass kein künstliches Mysterium um die Frage des „Wer?“ aufgebaut wird. Das ist Chabrol, nicht Christie. Seine Geschichten beginnen mit unauffälligen, fehlerbehafteten Menschen, mit denen man Empathie haben kann. Wir folgen ihnen also durch scheinbar banale Situationen, nehmen vielleicht manches Mal kleine Schrulligkeiten hin, bis sich diese Schrulligkeiten auf einmal zu einer Beweislage verdichten und uns kurz vor dem dritten Akt klar wird, dass die Charaktere auf eine Eskalation zusteuern. Und das ist nervenaufreibend wie bestürzend, weil wir die letzten zwei Drittel des Films die vom Plot Verdammten kennengelernt haben. Dieser pulstreibende Tango mit dem Publikum wird in Der Schlachter perfektioniert.

Der Tod und Frau Anstand

Feldstudie eines Mannes, um ein Gespräch bemüht ©FilmConfect

Tatsächlich nehmen wir uns viel Zeit, um Mademoiselle Hélène (Stéphane Audran) und Popaul (Jean Yanne) kennenzulernen und dürfen gleich bei ihrem ersten Treffen dabei sein. Sie werden auf der Hochzeit von Hélènes Kollegen nebeneinander gesetzt. Die ausgiebig und doch nie langweilig inszenierte Hochzeitsfeier erinnert ein wenig an jene aus Der Pate (1972) insofern, als dass sie beide von starken Dialogen zusammengehalten werden und meisterhaft unsere Dramatis personae etablieren. Popaul ist im Dorf aufgewachsen, war eine Weile in Algerien und Indochina im Krieg und wird wärmstens wieder in die Arme der Dorfgemeinschaft aufgenommen. Die zugezogene Hélène ist inzwischen als Direktorin der örtlichen Schule eine respektierte Institution. Er ist etwas grob, sie sehr feinfühlig. Er erzählt offenherzig über alte Wunden, sie ist jemand, der an einer Zigarette zieht und sich ausschweigt. Er schneidet das Fleisch, sie genießt es. Wie man es von Feiern kennt, klammern sie sich mit leicht erzwungenem Smalltalk aneinander. Als Hélène die Feier verlässt, begleitet Popaul sie ungefragt, denn er ist doch merklich angetan. Besonders geschickt im Flirten ist er nicht, aber er bietet der Dame seines Interesses an, ihr mal Steak vorbeizubringen. Das zeigt sich effektiv: eine Freundschaft ist geboren. Bald sind gemeinsame, fleischlastige Abendessen Routine und Popaul hilft sogar im Klassenzimmer aus oder werkelt an Hélènes Domizil im oberen Stockwerk der Schule. Da scheint es beiläufig, dass in der Gegend eine schlimm zugerichtete Frauenleiche gefunden wurde. Das Dorf ist ein Mikrokosmos, in dem es diesen einen Eckladen gibt, wo alle einkaufen, jeder grüßt und wird gegrüßt, es gibt ein Urvertrauen, dass der Mörder woanders zu finden ist.

Die Ereignisse überschlagen sich bei zwei Wanderausflügen im Wald, die Hélène mit ihrer Klasse unternimmt: Beim ersten gesteht Popaul ihr endlich seine Gefühle. Aber nein, sie kann und sie will nicht mehr riskieren als Freundschaft. Das nimmt er hin und bekommt sogar ein eigens von ihr ausgesuchtes Feuerzeug geschenkt. Dies wandelt sich beim zweiten Wanderausflug in Tragik um: Hélène stolpert mit ihrer Klasse gleich über das nächste Opfer, oder vielmehr gesellt das Opfer sich unfreiwillig zur Brotzeit. Diese meisterhafte Studie im kreativen Einsatz von Kunstblut finden wir übrigens in American Psycho (2000) wieder.  Auch mit von der Partie: Das Feuerzeug.

Man kennt ihn, den klassischen Wanderausflug ©FilmConfect

Wohin mit der Fleischeslust?

In diesem Moment merkt man als Zuschauer, wie effektiv die bis dahin recht ereignislose Spielzeit doch war. Denn genau wie Hélène hoffen und beten wir, dass es nicht so ist, wie es aussieht. Chabrol hat geschickt mit Archetypen gespielt: Hélène ist die Eiskönigin, die in ihrer Jugend schwer von der Liebe enttäuscht wurde und den Männern abgeschworen hat. Aber es wird nie so dargestellt, als sei ihre Reserviertheit ein Makel, den ein Mann beheben müsse; Sie ist eine liebevolle, mitfühlende, engagierte Frau mit einem erfüllten Leben.  Popaul ist der verstörte Exsoldat, der psychotische Gewaltausbrüche hat, aber alles Bestialische passiert offscreen. Er ist kein Pitbull im Hautanzug. Wir kennen nur den charmanten Sonderling, der geduldig um Hélène wirbt, den die Kinder lieben und der so oft von zerstückelten Leichen erzählt, weil ihn grausame Erlebnisse nicht ruhen lassen. Es ist Mitte der 1960er; Frankreich ist nicht gerade engagiert darin, seine Soldaten wieder in den Alltag zu integrieren. Psychologische Betreuung? Quoi? Gibt’s nicht.

So nett er auch sein kann, er ist ein verstörter Mann. Und auch, wenn uns ein ermittelnder Kommissar dankenswerterweise informiert, dass keines der Opfer vergewaltigt wurde, so haben die Taten doch etwas unleugbar Sexuelles. Das schöpft sich nicht nur aus der altbekannten Penetrationsmetapher, die wir von Messerschwingenden aus Slashern kennen. Gerade der Umstand, dass die Beziehung zwischen Popaul und Hélène auf einer nichtsexuellen Ebene gefriert, obwohl er dies zu gerne ändern würde, lässt tief blicken. So manche:r Kritiker:in hat in dem Liebesgeständnis im Wald eine misogyne These gesehen: Impliziert Chabrol etwa, dass der Serienmörder hätte geläutert und gestoppt werden können, wenn Hélène ihn nur rangelassen hätte? Sex als Antiseptikum gegen explosive Gewaltimpulse. Ein reißerischer Gedanke.

Nicht nur Hélènes Schüler:innen hoffen auf ein Happy End ©FilmConfect

Ich plädiere gegen diese Deutung. Zum einen, weil Hélènes unkonventionelle Weiblichkeit  keine Dämonisierung im restlichen Film erfährt, zum anderen, weil die Szene im Wald nicht das Framing eines Incel-Gespinstes besitzt. In Chabrols Filmen lenkt Sex die Protagonist*innen zielsicher in den Ruin, aber nicht, weil der Sex ein Übel ist. Das Üble ist immer das Bourgeoise, das Zivilisierte, das Verurteilende.

Das Ende aller Hoffnung

Es muss niemand fürchten, dass ich bereits zu viel erzählt habe. Nur so viel: Das Finale des Films ist ein Lehrstück über Spannungstheorie. So oft ich Der Schlachter auch schon gesehen habe, ich finde immer Neues im Finale und auch in früheren, unauffälligeren Szenen zu entdecken. Hierbei helfen nicht nur Chabrols bedachtes Erzähltempo, sondern auch seine ganz eigene Form von Naturalismus. Wir sehen die Schönheit der Landschaft und ihre Idylle, wir sehen die unmoderne Inneneinrichtung und jede Menge hässliche Tapete. In diesem Dorf bleibt die Zeit stehen, die Tage verstreichen, aber es gibt keine radikalen Veränderungen. Außer jene Wandlungen, die die Beziehung zwischen Hélène und Popaul vollzieht.

Jean Yanne hält sich wunderbar und spielt glaubhaft eine Bestie, die keine sein will und im Tageslicht beinahe funktioniert, aber Stéphane Audran ist die Quintessenz des Films. Schauspielerinnen, die mit den Regisseuren ihrer Filme verbandelt waren, stehen oft unter dem Generalverdacht, nicht ihres Könnens wegen besetzt worden zu sein. Wie bereits erwähnt ist Audran in vielen Chabrols zu sehen, und ob in Zwei Freundinnen (1968), Der Riss (1970) oder Vor Einbruch der Nacht (1971)- durchgehend schafft sie es, durch einen Blick, eine Handbewegung oder eine wohlplatzierte Denkpause distanzierte oder gequälte Charaktere nahbar zu machen. Einen ebenfalls starken Eindruck hat sie in Babettes Fest (1987) hinterlassen. Wenn es Gerechtigkeit gäbe, hätte sie mehr Preise der Filmbranche als Staubfänger stehen gehabt.

Immer Sorgen mit der Liebe ©FilmConfect

Audran und Yanne lassen jede Kulisse wie ihren eigenen privaten Raum wirken. Komponist Pierre Jansen, ebenfalls ein Wiederholungstäter im Chabrolschen Kosmos, versteht die leisen Spannungsmomente und die lauten Zweifel perfekt musikalisch zu untersetzen. Nicht zuletzt ist es Claude Chabrol, der versteht, ab wann der Bogen überspannt, die Gewalt ordinär und die Unterhaltung melodramatisch werden könnte. Und so steuert das Unterfangen auf einen Klimax hin, den wir fürchten. Wir wissen, es gibt ein paar vernünftige Ausgänge, die uns tief in der Seele treffen würden, und viele Erwartbare, die uns unversehrt mit ihrer Billigkeit ließen. In der letzten Einstellung wird klar, dass im schönen Frankreich keine bessere Welt wartet und wir alle Popauls Charme, der sogar echt ist, hätten erliegen können. Unter diesem Engagement ist Der Schlachter zu einem Meisterwerk geraten, an das sich die deutschen Verleihe nicht recht herantrauten und das stiefmütterlich als Geheimtipp auf Amazon Prime, Mubi und eventuell noch anderswo ruht (der Valentinstag ist ein ekliger, kapitalismusorientierter Fiktivfesttag, aber euer Lieblingskino schont wie immer euren Geldbeutel!).

Ich empfehle nicht alle Filme jeder und jedem. Nicht mal die, die ich für Meisterwerke halte. Wenn euch Dialoglastigkeit und Plots mit angezogener Handbremse zum Sterben langweilen, verzeichnet Der Schlachter hier weitere Opfer. Aber sollte euch die perfekte Mischung von zwischenmenschlicher Romantik und perfektioniertem Thrill reizen, so kommet an den Grill. Es ist knusprig, saftig, servierfertig und hat einen Nachgeschmack, für den andere Filmemacher sicher morden würden.

Es gibt leider keinen gescheiten Trailer, aber dafür sehr gescheite opening credits!