Züge gehören zu den komfortabelsten Verkehrsmitteln. Man fährt ruhig, zügig, emissionsarm und steht nicht im Stau. Mit etwas Glück kommt man sogar pünktlich an und schafft seinen Anschluss. Im Großen und Ganzen also eine feine Angelegenheit. Wenn dann jedoch andere Fahrgäste ein Element der Unberechenbarkeit in die Gleichung einbringen, kann auch eine einfache Zugfahrt zum Abenteuer mit nicht vorherzusehenden Konsequenzen werden. In heutigen Zeiten ist es selbstverständlich umso unangebrachter, wenn sich zu einem ein unbekannter Zugfahrender dazugesellt (womöglich noch ein militanter Mundschutzverweigerer), doch auch im legendenhaften Prä-Corona-Zeitalter konnte ein ungebetener, gegenüber sitzender Fahrgast, der Beginn so mancher bizarrer Konversation sein. Ich erinnere mich da beispielsweise an eine hochinteressante Zugfahrt mit dem Saxonia-Express, bei welcher sich ein Öko-Esoteriker mindestens eine Stunde mit mir über energetische Eigenschaften verschiedener Wasserarten und die angeblich messbare Bioenergie zur Unterscheidung von Waldkräutern unterhielt (und mir seine Geschäftsidee eines Energiemessers präsentierte, mit dem man zweifelsfrei Bärlauch identifizieren kann).

Diese Begebenheit ist jedoch noch deutlich harmloser und gewöhnlicher als die Begegnung, welche die Handlung des spanischen Festivalerfolgs Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden auslöst: Angel Sanaugustín (Ernesto Alterio) gesellt sich im Zug zu der Verlegerin Helga Pato (Pilar Castro), stellt sich als Arzt einer psychiatrischen Klinik vor, öffnet seine Mappe und beginnt von einem seiner bizarrsten Fälle zu berichten. Über das was danach folgt, sollte möglichst wenig berichtet werden, denn der größte Reiz des Filmes stellt seine Unberechenbarkeit dar. In seinem Langfilmdebüt präsentiert der baskische Regisseur Aritz Moreno einen abenteuerlich konstruierten Episodenfilm, dessen drei eingebettete Teilhandlungen zudem teils abstrus verstrickt und verschachtelt sind, bevor er seinem Publikum im überraschenden Finale komplett den Boden unter den Füßen wegzieht. Um da nicht vollkommen auszusteigen, muss man als Zuschauer*in schon einiges an Konzentration und Toleranz für Abstrusitäten und ineinander geschachtelte Erzählebenen mitbringen. So verpackt schon das erste Kapitel nicht weniger als fünf (!) Rückblenden und kombiniert eine Weltverschwörung der Müllmänner mit Menschenhandel im kriegsgebeutelten Kosovo. Die Buchvorlage Ventajas de viajar en tren (dt. "Vorteile von Zugreisen") von Antonio Orejudo galt als unverfilmbar und beim Schauen der Verfilmung beginnt man zu ahnen, warum.

Helga Pato, schockiert von Dr. Sanaugustíns obskuren Geschichten © Neue Visionen Filmverleih

Leider handelt es sich bei Die obskuren Geschichten... um ein heilloses Durcheinander von Stimmungen und Handlungssträngen. In einem Interview nannte der Regisseur als wichtigste Inspirationsquellen Paul Thomas Andersons surrealistisch angehauchtes Ensemble-Epos Magnolia, David Finchers Mindfuck-Kultfilm Fight Club, sowie Filme von Wes Anderson und das koreanische Kino der 2000er. Genau dieses Mischmasch aus verschiedenartigsten Einflüssen merkt man in Morenos Film: Man nehme die detaillierte Ausstattung und geometrische Bildsprache eines Anderson gepaart mit der Abgründigkeit, der Genre-Vermischung und den Gewaltspitzen entsprechender koreanischer Filme à la Oldboy, dazu noch ein unzuverlässiger Erzähler, wie bei Fight Club, und heraus kommt in etwa dieser Film. Mit etwas gutem Willen kann man kann dieses eigenwillige Chaos durchaus erfrischend und aufregend finden und Spaß an seinen bizarren Ideen und seiner konsequent durchgezogenen Absurdität haben (Spoiler: ich hatte das eher weniger). Hochwertig inszeniert ist der Film allemal und auch die darstellerischen Leistungen überzeugen. Insbesondere Ernesto Alterio, u.a. bekannt aus Perfectos Desconocidos (der spanischen Version von Das perfekte Geheimnis), welcher den Psychiater Sanaugustín mit viel Spielfreude und Verschrobenheit verkörpert und Pilar Castro, deren Charakter wohl am komplexesten ist und ihr einiges abverlangt, leisten hervorragende Arbeit. In einer kleineren, aber nichtsdestotrotz erinnerungswürdigen Nebenrolle spielt in diesem Film auch Luis Tosar mit (Zelle 211, Sleep Tight), wohl einer der bekanntesten, meistbeschäftigten und vielseitigsten Darsteller Spaniens. Dazu kommt noch die hervorragende, avantgardistische Filmmusik von Cristóbal Tapia de Veer (u.a. bekannt für die Serien Utopia, Humans und Dirk Gently's Holistic Detective Agency), deren Gesangsanteile leicht an die Musik von The Square erinnern.

Luis Tosar, auch mit untypischer Zottelmähne immer gern gesehen © Neue Visionen Filmverleih

Auch wenn viele Elemente von Die obskuren Geschichten... vielversprechend wirken, so fügen sich diese leider am Ende nicht zu einem stimmigen Film zusammen. Zu groß sind die erzählerischen Sprünge, zu plötzlich die Genrewechsel, zu grimmig die Tonalität. Des Öfteren folgt auf eine äußerst bittere Szene ein surrealer Slapstick-Gag, wie beispielsweise im ersten Kapitel, in welchem der Vater von Luis Tosars Charakter, nachdem dieser von seinen Kriegserfahrungen berichtet hat, mit einem wütenden Fausthieb den Esstisch sauber in zwei Hälften zerteilt. Diese Art von Humor, welcher im Verlauf des Filmes keine Seltenheit darstellt, sorgt in Kombination mit den finsteren Thematiken, welche angerissen werden, eher für Stirnrunzeln. Im Allgemeinen versteht sich der Film als schwarze Komödie, viel lachen konnte ich über das Gezeigte allerdings nicht.

Und dann kommt eben, nach der eher enttäuschenden dritten Episode, welche nur einen sehr losen Bezug zur Rahmenhandlung hat, die finale Auflösung, welche mehr Unklarheiten schafft, als beseitigt. Zu diesem Zeitpunkt hat der Film zwar schon jede Form von Realitätsbezug über Bord geworfen, dennoch fühlte sich die Kehrtwende, die der Film vollführt, (wie so einiges in diesem Film) irrsinnig, unbefriedigend und unnötig verworren an.

Sollte man sich diesen Film im Kino ansehen? Das hängt wohl sehr davon ab, welche Art von Film einem zusagt. Wer sich für Filme interessiert, die sich komplett von gängigen Handlungsstrukturen verabschieden, einen sehr finsteren Sinn für Humor hat und von Perversionen, Grausamkeiten und Gewalt nicht abgeschreckt wird, der kann ruhig einen Blick riskieren. Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden hat durchaus seine Reize, wenn er sich auch in einer unnötig verschachtelten Handlung und allerhand Abstrusität verliert und die Handlung gegen Ende völlig aus dem Ruder läuft. Wer jedoch zart besaitet ist oder wenig Verständnis für plötzliche Stimmungswechsel und bizarre Genremischungen hat, der bleibt wohl lieber auf Abstand.

Wer sich auf den Film einlassen möchte, hat ab dem 20. August die Gelegenheit, ihn im Kino zu sehen.