Die bedingungslose Liebe für das Medium Film birgt unumgänglich auch eine Konfrontation mit dem Randständigen in sich. Sobald die Oberfläche dieses Wunderwerks modernen Kunstschaffens einmal durchbrochen wird, öffnet sich der Blick für dessen unerschöpfliche Tiefen, komplexe Auswüchse und schillernde Facetten. Das Erstaunliche an der sich daran anschließenden cineastischen Erkundungsreise ist, dass das weite Feld der Filmkunst umso endloser erscheint, je mehr davon bereits erschlossen wurde. Aufgrund dieser Besonderheit muss sich ein Mensch, einmal auf dieses Feld hinausgezogen, immer auch mit dessen ständig wachsenden Rändern beschäftigen. Dabei handelt es sich um die Grenzen des eigenen Blickfeldes, um die Entdeckung des noch Unbekannten und letztlich auch um den Wandel der eigenen filmischen Wahrnehmung.

In meinem Fall verweilte das Kino von Agnès Varda längste Zeit an den Rändern meines filmischen Blickfelds. Schon früh war mir bewusst, dass es da eine Agnès gab, die Varda hieß und viele Jahrzehnte künstlerisch aktiv war, aber aus Gründen, die sich mir nicht erschließen wollen, blieb ich zu ihren Lebzeiten dauerhaft auf Distanz zu ihrem Schaffen. Leider verstarb Agnès Varda am 29. März 2019, woraufhin ich mich wenigstens posthum endlich mit ihrem Werk auseinandersetzen wollte. An dieser Stelle folgt ein erster Erfahrungsbericht über diese überfällige Erweiterung der eigenen Perspektive. Dabei gilt es festzuhalten, dass ich mich bisher ausschließlich auf abendfüllende Filme konzentriert habe, die unter Vardas Regie entstanden sind, und selbst davon erst einen Bruchteil sichten konnte.

Bereits in ihrer ersten abendfüllenden Regiearbeit aus dem Jahr 1955 zeigt Agnès Varda eine ungewöhnlich künstlerische Handschrift, welche sich in ihren darauffolgenden Filmen noch klarer herausbilden sollte. Hier findet sich auch schon Vardas differenzierter Blick auf die randständigen Aspekte und Personen der Gesellschaft wieder, welcher zumindest jene Werke miteinander verknüpft, die ich bis dato schauen konnte und mich zu dieser ausufernden Einleitung inspiriert hat. Unter dem Titel „La Pointe Courte“ inszeniert sie darin Liebeswirrungen vor dem Hintergrund einer ärmlichen Fischersiedlung unter eben diesem Namen. Ein junger Mann (Philippe Noiret) kehrt aus der großen Stadt in seine ehemalige Heimat zurück und lockt durch diese plötzliche Stadtflucht auch seine Ehefrau (Silvia Monfort) dorthin. Die beiden scheinen sich nach Jahren der Ehe auseinandergelebt zu haben und der Mann erhofft sich eine neuerliche Annäherung, indem er seine Frau erstmals mit seiner einfachen Herkunft und den Gepflogenheiten der eigenen Heimat vertraut macht.

Der Spielfilm ist mit dokumentarischen Elementen durchwoben, indem neben der ehelichen Auseinandersetzung auch der schwierige Alltag der Fischerfamilien von Pointe Courte in den Mittelpunkt gerückt wird. So wird gezeigt, dass Letztere ihren Unterhalt an der Grenze zur Illegalität bestreiten müssen, da sie sich eine offizielle Fischereilizenz nicht leisten können und immer wieder heimlich mit ihren schlichten Booten hinausfahren – unter ständiger Gefahr einer Verhaftung durch die Wasserschutzpolizei. Agnès Varda zeigt neben den Nöten dieser Menschen jedoch auch deren Freuden, indem sie eines ihrer traditionellen Kampfbootturniere einfängt. Insgesamt weist „La Pointe-Courte“ eine sehr ruhige, poetische Erzählweise auf, welche sich herkömmlichen erzählerischen Mitteln verwehrt. In schönen, kontrastreichen Schwarz-Weiß-Bildern werden die dokumentarisch inszenierten Aufnahmen der Umgebung und ihrer Bewohner*innen und die sich in diesem Kontext abspielende, fiktionale Liebesgeschichte ineinander verschachtelt, wobei letzterer Aspekt jedoch mitunter etwas fehlplatziert und teilweise sogar störend wirkt. Die eigentliche Stärke von Agnès Vardas Regiedebüt liegt in den einfühlenden Beobachtungen einer randständigen Gesellschaftsgruppe, welche in sich einen engen Zusammenhalt aufweist.

In Vardas zweitem Langspielfilm aus dem Jahr 1962, „Clèo de cinq à sept“ [Mittwoch zwischen 5 und 7], werden erneut verschiedene Aspekte zugleich verhandelt, sind hier jedoch harmonischer miteinander verbunden als noch bei „La Pointe-Courte“. Das Randständige findet sich in diesem Fall in der Figur der Clèo (Corinne Marchand) wieder - eine erfolgreiche junge Sängerin, welche auf den ersten Blick nahtlos in die künstlerische Bohème des Paris der frühen 1960er Jahre integriert zu sein scheint, dann jedoch durch die drohende Diagnose einer schweren Krankheit an deren Rand gedrängt wird. Bei diesem Film sticht die hochstilisierte, wie auch klar strukturierte Inszenierung hervor. Agnès Varda begleitet Clèo zunächst mit einem streng kontrollierten Blick, welcher auf zwei Stunden eines Tages in ihrem Leben beschränkt und in kleine zeitliche Einheiten unterteilt ist.

Clèo fiebert dem Resultat einer medizinischen Untersuchung entgegen und wird zunehmend unruhiger, bis sie irgendwann rastlos durch Paris irrt. In Anlehnung an diese Entwicklung ihrer Hauptfigur bricht Varda ebenfalls zunehmend die anfänglich noch streng stilisierte Gestaltung des Films auf und wirft immer offenherzigere Blicke auf den verletzlichen Menschen hinter der künstlichen Fassade. So mischen sich wiederholt experimentell-dokumentarische Aufnahmen des geschäftigen Paris unter die schwarz-weißen Hochglanzbilder, bis die Kamera letztlich vollkommen gelöst wirkt. Im gleichen Maße beginnt auch Clèo Stück für Stück, die plötzliche Veränderung als eine Chance zu begreifen und sich von den einzwängenden Erwartungen ihrer Umgebung zu lösen, um einen Neustart zu wagen.

Das Aufbrechen von Zwängen und Rollenmustern wird der weiblichen Hauptfigur von Agnès Vardas drittem Langspielfilm aus dem Jahr 1965 nicht ermöglicht. Unter dem Titel „Le Bonheur“ [Glück aus dem Blickwinkel eines Mannes] porträtiert Varda darin ein junges Ehepaar mit zwei kleinen Kindern. Während dabei an der Oberfläche alles harmonisch und idyllisch wirkt - es ist Agnès Vardas erster Langspielfilm in Farbe und in satten, schönen Farbtönen noch dazu - brodeln darunter die Abgründe. Thérèse und François Chevalier (Claire und Jean-Claude Drouot) scheinen ein in Liebe vereintes Familienleben zu führen. Sie arbeitet als Schneiderin zuhause, er arbeitet in der Tischlerei seines Vaters, gemeinsam mit seinen Eltern, in deren unmittelbarer Nachbarschaft sie leben, ziehen sie die Kinder groß und die Wochenenden verbringen sie mit Ausflügen in die nahegelegene Natur.

Selbst als François bei einem Auftrag in einer anderen Stadt Émilie (Marie-France Boyer) kennenlernt und in der Folge mit ihr eine Affäre hat, scheint dies dem eheliche Glück kein Ende zu bereiten. Der junge Familienvater wirkt erfüllt von einer Liebe und inneren Erfüllung, die in seiner Vorstellung problemlos für beide Frauen und die Kinder reicht. Erst sehr spät entlarvt Agnès Varda die ausklammernde, ja geradezu vernichtende Perspektive, welche die Figur des François einnimmt und die das eigene Glück, die eigene Erfüllung über dessen Umgebung stülpt. Eigentlich bleibt nämlich Thérèse die relevante Identifikationsperson in „Le Bonheur“, nur dass sie durch die narrative Struktur des Films und den Fokus auf François nahezu verschwindend an den Rand gedrängt wird. Sobald sie sich mit dem Doppelleben ihres Mannes konfrontiert sieht und dessen hedonistischen Lebensentwurf stören könnte, wird sie sogar gänzlich und wortwörtlich daraus verdrängt. So offenbart sich das Kernthema dieses Films erst in der tiefer gehenden Reflexion über das Gezeigte, in der Beachtung der außenstehenden Aspekte, welche einer oberflächlichen Betrachtung entgehen würden. Was in seiner überhöht ästhetisierten, farbenfrohen Inszenierung vorschnell als harmonischer Entwurf einer polyamourösen Familienstruktur interpretiert werden könnte, entpuppt sich als erschreckende Unterdrückung von Bedürfnissen anderer zum Zweck des eigenen Wohlbefindens.

Die differenzierte Auseinandersetzung mit Außenstehenden, seien dies nun Personen oder ganze Gesellschaftsteile, scheint sich durch das gesamte filmische Schaffen von Agnès Varda zu ziehen und ist mir bisher auch in ihrem Spielfilm „Sans toit ni loi“ [Vogelfrei] von 1985 und ihrem Dokumentarfilm „Les glaneurs et la glaneuse“ [Der Sammler und die Sammlerin] von 2000 aufgefallen. Während sich ersterer mit einer jungen Frau beschäftigt, welche durch ihren Drang nach Unabhängigkeit zum Vagabundieren verdammt zu sein scheint, wirft Varda in letzterer Arbeit einen Blick auf die vergessene und an den Rand der französischen Gesellschaft verdrängte Tradition des Aufsammelns von Überschüssigem. Mit gerade einmal fünf gesehenen Regiearbeiten habe ich bisher lediglich an der Oberfläche ihres gewaltigen filmkünstlerischen Schaffens gekratzt, bin aber bereits darin gefangen und möchte unbedingt weitere Arbeiten von ihr sehen. Agnès Varda befindet sich nun jedenfalls nicht mehr am Rande meiner cineastischen Wahrnehmung – obwohl sie sich damit wahrscheinlich sogar gerne identifiziert hätte.

Die in diesem Artikel besprochenen und viele weitere Filme von Agnès Varda können übrigens zur Zeit bei MUBI gestreamt werden.

Headerbild: Clèo a cinq de sept | © Succession Varda