Man sollte eigentlich meinen, dass Anime längst dem Status einer Nischenkultur entwachsen sind. So dürfte die Mehrheit etwas mit den meisterhaften Filmen von Studio Ghibli und Serien wie One Piece oder Detective Conan anzufangen wissen. Schade, dass es dennoch hierzulande so wenige Animefilme auf die große Leinwand schaffen. Und wenn dann Riesenhits, wie Makoto Shinkais Rekordbrecher Your Name., doch ihren Weg in die hiesigen Lichtspielhäuser finden, laufen sie doch bloß in ausgewählten Kinos an einem einzigen Tag als Special-Event. Your Name. war letztlich so erfolgreich, dass er noch ein zweites Mal gezeigt wurde, eine reguläre Kinoauswertung erhielt er jedoch (abgesehen von den gut besuchten Vorführungen im Kino im Kasten :p) nicht. Umso erfreulicher, dass Belle, der neuste Film von Mamoru Hosoda, ganz regulär im Kino startet. Überall wird er zwar wohl nicht zu sehen sein, aber doch auf deutlich mehr Leinwänden als die meisten Animefilme.

Offizieller Trailer zum Film © Koch Films/24 Bilder

In der virtuellen Realität "U", einem immersiven sozialen Netzwerk, kann jede Person sein, wer sie will und als Avatar ausleben, was in der realen Welt nicht möglich ist. So ist der Avatar "Belle" das populärste Idol jener virtuellen Welt und begeistert mit spektakulären Tanzperformances im Cyberspace die Massen. Im echten Leben verbirgt sich hinter Belle die schüchterne Oberschülerin Suzu, welche in einer abgelegenen Bergregion im ländlichen Japan lebt. Nach einem traumatischen Ereignis ist sie nicht mehr in der Lage zu singen. Auf Anraten ihrer geekigen besten Freundin Hiroka meldet sich Suzu in U an und wird dort mit ihrer Hilfe zum Superstar. Durch den anonymen Erfolg angespornt, blüht Suzu langsam auf. Doch in U herrscht nicht nur eitel Sonnenschein: Eine monströse, menschenähnliche Bestie, genannt "Dragon", sorgt für Unheil. Suzu ist fasziniert von Dragon und versucht herauszufinden, welche Geschichte sich hinter dem Avatar verbirgt.

Eine einsame Bestie: Was steckt hinter dem rätselhaften Dragon? © Koch Films/24 Bilder

Nach dem visionären Summer Wars (unglaublich, dass dieser Film bereits 2009 erschien, als VR und soziale Netzwerke noch in den Kinderschuhen steckten!) begibt sich Mamoru Hosoda abermals in den Cyberspace. Neben Your Name.-Regisseur Shinkai gehört Hosoda zu den herausragendsten Anime-Regisseuren seiner Generation und zeichnet sich für solch famose Filme wie Das Mädchen, das durch die Zeit sprang und Ame & Yuki – Die Wolfskinder verantwortlich. Oder eben den höchst unterhaltsamen Summer Wars. Mit Der Junge und das Biest, sowie Mirai – Das Mädchen aus der Zukunft folgten hingegen zwei Filme, welche zwar abermals stark animiert waren, auf erzählerischer Ebene hingegen etwas strauchelten. Als Fan der früheren Hosoda-Filme war ich gespannt, ob er mit seinem neusten Werk wieder an seine früheren Erfolge anknüpfen kann. Die Antwort auf diese Frage: ein eindeutiges Jein!

Zunächst einmal zum Visuellen: Belle sieht echt toll aus. Allein für die starken Bilder lohnt es sich durchaus, den Film auf der Kinoleinwand zu sehen. Man muss zwar etwas Toleranz für Kitsch haben (gerade beim blumig-rosafarbenen Look von Belles Avatar wurde tief in die Kitschkiste gegriffen), aber insgesamt sind Animation und Charakterdesigns wirklich gut gelungen. Mir persönlich hat aber der handgezeichnete Stil der Realwelt-Szenen deutlich besser gefallen als der CGI-Cel-Shading-Look von U. Doch keine Angst, die Szenen in U sind keineswegs mit solchen CGI-Abscheulichkeiten zu vergleichen, wie sie in Anime mittlerweile des Öfteren zu sehen sind, sondern sehen auch wirklich gut aus. Auch wenn der klassische 2D-Look mir in Anime stets besser gefällt, passt die Cel-Shading-Optik gut zum Cyberspace-Setting und sorgt für interessante visuelle Gegensätze zwischen den verschiedenen Welten. Schließlich gibt es in U wirklich Spektakuläres zu sehen, beispielsweise wenn Belle in der überbordenden Anfangsszene auf einem fliegenden Blauwal reitend den ersten Song des Filmes zum Besten gibt.

Achtung Kitsch: Manchmal wird der Film doch übertrieben... rosa. © Koch Films/24 Bilder

Dennoch waren es die Realweltszenen, die mich mehr mitgerissen haben. Ich bin aber auch empfänglich für abgelegene japanische Bergstädtchen und Slice-of-Life-Geschichten pubertierender Highschooler:innen. Da wartet der Film auch mit liebenswert-schrulligen Nebenfiguren auf, wie der geekigen Hiroka, der chaotischen Sportskanone Kamishin (Begründer und einziges Mitglied des Kanu-Clubs!) und der beliebten Schulschönheit Ruka (welcher Belle nicht zufällig etwas ähnelt). Außerdem gibt es noch ihren Kindheitsfreund und selbsternannten Beschützer Shinobu, in welchen sie heimlich verknallt ist (was natürlich zu einigen peinlichen Situationen führt). Eigentlich hätte mir das allein als Setting gereicht, zumal ich es auch wirklich mitreißend fand, die tragische Vergangenheit von Suzu zu ergründen. Doch der eigentliche Kern von Belle ist natürlich die virtuelle Welt U.

Mittels "Bodysharing"-Earplugs taucht man in die VR-Welt von U ein © Koch Films/24 Bilder

Und die ist leider ein Schwachpunkt des Filmes. Zwar sind Belles Tanznummern verspielt und imposant inszeniert, abseits davon wirkt der VR-Space jedoch visuell recht steril. Eine virtuelle Beton-Metropole durch deren Straßenschluchten hunderttausende Avatare unterschiedlichster Gestalt schweben und... ja, was machen sie eigentlich den lieben langen Tag? Der Film scheitert darin zu vermitteln, worin eigentlich der Reiz von U bestehen soll. Ok, man kann in einen Avatar schlüpfen und sein, wer man will. Aber was macht man denn nun in Gestalt seines Avatars? Außer durch die Straßen zu schweben und auf das nächste Ständchen von Belle zu warten? Neben Belle und Dragon gibt es offenbar auch keine anderen Avatare mit besonderen Fähigkeiten. Besonders reizvoll scheint mir das nicht gerade zu sein. Wenigstens hat Dragon ein cool designtes Schloss abseits jener kalten VR-Großstadt, welche dem Limbus aus Inception entsprungen zu sein scheint. Hier spielt sich nun im Schnelldurchlauf eine Adaption von Die Schöne und das Biest ab, inklusive Tanzszene im Ballsaal. Gebraucht hätte das dieser Film, der ohnehin schon zu überladen ist, nicht. Durch die Verknappung erscheint die rätselhafte Faszination der "Schönen" für das gewalttätige "Biest" noch willkürlicher als schon in der Vorlage. Vermutlich hätte es dem Film besser getan, hätte Hosoda auf diesen Subplot verzichtet und mehr Aufwand investiert, das Setting von U sorgfältiger zu etablieren.

Eher unnötig: Die VR-Neuinterpretation von "Die Schöne und das Biest" © Koch Films/24 Bilder

Die Idee von U ist nämlich wirklich spannend. Im Schutze der Anonymität traut sich Suzu, ihre inneren Wünsche auszuleben, wächst dadurch als Charakter und beginnt, ihr Trauma zu verarbeiten. Man ist mittlerweile so gewohnt, dass soziale Netzwerke und virtuelle Welten in Filmen negativ dargestellt und kritisch hinterfragt werden, dass mich eine solch positiv behaftete Darstellung überrascht hat. Klar, der Film hätte Belles virtuellen Ruhm im Cyberspace und die Popularität von Influencer:innen auch kritischer hinterfragen können, aber in meinen Augen tut es dem Film gut, dass er es nicht tut, sondern sich mehr auf den Charakter von Suzu konzentriert. Und im Bezug auf ihre Charakterentwicklung hat der Film auch einige wirklich mitreißende Szenen parat, insbesondere im Song "A Million Miles Away", für mich der Höhepunkt des Filmes. Apropos: Der Soundtrack des schwedischen Komponisten Ludvig Forssell (Hideo Kojimas neuer Stammkomponist!) enthält ein paar echt starke Songs mit Ohrwurm-Potential. Beispielsweise will mir die Eröffnungsnummer "U" der Band "millennium parade", welche J-Pop mit elektronischen Sounds und einem karibisch anmutenden Rhythmus verbindet, nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Der Eröffnungssong "U" von millennium parade © Sony Music Labels Inc.

Im Gegensatz zu den VR-Szenen, wo der Film recht oberflächlich bleibt, hat mir der Realwelt-Anteil doch recht gut gefallen und beinahe hätte es der Film für mich geschafft, in die Riege von Hosodas früheren Filmen aufzusteigen. Leider hat das eigentliche Finale für mich kaum funktioniert. Hier versucht der Film noch, ein weiteres düsteres und tragisches Thema anzuschneiden, was ihm jedoch nur bedingt gelingt. Da dieses Thema erst in den letzten 20 Minuten zum Tragen kommt, wird es nur oberflächlich behandelt und der unglaubwürdige Handlungsverlauf wirkt beinahe etwas verharmlosend. Außerdem gibt es zuvor noch eine Szene, in welcher Hiroka mittels ihrer Hacker-Fähigkeiten den Ort, an welchen sich Suzu begeben muss, ausfindig macht, welche ich aus Datenschutz-Perspektive sehr beunruhigend fand (vor allem da das Vorgehen in keinster Weise hinterfragt wird).

Letztendlich wirkt der Film durch die Abzweigung ins Ernsthafte, welche er im Finale nimmt, nur noch überladener als er sein müsste. Hätte Belle sich vorrangig auf seine Charaktere konzentriert, die Welt von U etwas gründlicher erklärt, den Schöne/Biest-Handlungsstrang weggelassen und das Finale etwas organischer und glaubhafter gestaltet, hätte er ein erstklassiger Anime-Film sein können. In meinen Augen ist er aber trotzdem immer noch echt gelungen, insbesondere dank hervorragender Animationen und starker Songs, wirkt aber überladen und bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück. Anime-Fans sei der Gang ins Kino (wo er seit dem 9. Juni 2022 zu sehen ist) dennoch empfohlen, schließlich sollte man die Möglichkeit nutzen, einen neuen Hosoda auf der großen Leinwand erleben zu können. Hoffentlich werden in Zukunft häufiger Animes regulär im Kino zu sehen sein (und nicht nur in Form von einmaligen Special-Events).