Denken Sie öfter daran, wie Sie einmal sterben werden?

Die Möglichkeiten sind ja quasi unbegrenzt und reichen von Altersschwäche bis Zyankalivergiftung. Vielleicht wünschen Sie persönlich sich auch etwas Exzentrisches, wie von einer marmornen Knabenskulptur erschlagen zu werden. Vielleicht ist Ihnen das Thema Tod einfach nur sehr, sehr unangenehm. Matthias Glasner beweist mit seinem Berlinale-Hit Sterben, dass beide Zielgruppen bedient werden können!

Ein Stimmungsbild: Corinna Harfouch, Urne tragend, schlecht gelaunt ©Wild Bunch

Wer Glasner nicht kennt: Man könnte ihn als die freundlichere, deutsche Version von Lars von Trier sehen. Er nimmt sich gerne heiteren Stoffes an: In Gnade von 2012 beobachtet er ein Paar, dass versehentlich ein junges Mädchen totfährt und mit dieser Schuld hadert. Gegen Der freie Wille von 2006 sind das allerdings auch Kinkerlitzchen, denn hier lässt uns Glasner Seite an Seite mit einem Serienvergewaltiger laufen, der sich ändern will, aber nicht wirklich kann. Ähnlich wie bei von Trier ist man sich da nie ganz sicher, ob das Stoff zum Nachdenken oder zur Provokation ist.

So sei es nachgesehen, wenn man bei Sterben schon Schlimmstes vermutet. Der Titel ist ja schon aussagekräftig genug. Und dann geht das Ding auch noch satte 3 Stunden und statt Glasners Stammkollaborateur Jürgen Vogel muss man nun mit Lars Eidinger vorlieb nehmen. Dessen Fähigkeiten stehen dem Vogel zwar in keinster Weise nach, aber nach gefühlt tausenden Tatort-artigen Formaten mit Lars "Psychokiller" Eidinger und einer generell hohen Medienpräsenz mag man versucht sein, Sterben einfach mal sein zu lassen. Damit wird dem Film allerdings gehörig Unrecht getan. Das sollte die geneigte Leserschaft nicht nur glauben, weil's dieses Jahr auf der Berlinale ganz viel Applaus gab, denn derlei masturbatorische Sippentreffen der Filmszene krönen vielleicht die Prom Queen, aber nicht die Stufenbeste.

Matthias Glasner (r.) mit der feschen Mütze, die Lars Eidinger als Tom (li.) den Film über wie eine Mahnung herumträgt ©Wild Bunch

Diesmal ist der Stoff recht lebensnah für die Durchschnittsbürgerin oder den Max Mustermann, besonders für Glasner.  Indem Hans-Uwe Bauer im Abspann als "mein Vater" erwähnt wird, outen sich klare autobiografische Züge. Fraglich, wie viel von Familie Glasner es in das Drehbuch geschafft hat, das Publikum befasst sich dafür mit der Familie Lunies. Die Lunies sind ein verkorkster, dysfunktionaler Clan. In unterschiedlichen Kapiteln lernen wir die Mitglieder kennen. Alle eingeblendet mit Titelkarten aus abstrakter Kunst, damit wir wissen, dass wir es mit gehobener Unterhaltung zu tun haben! Das ist ein Kunstfilm.

Zu Mutter Lissy (Corinna Harfouch) in Kapitel 1. Ihr Mann (Bauer) ist schwer dement, pinkelt überall hin und macht generell nur noch Mühe. Sie ist froh, als er endlich ins Heim kommt. Das Schicksal gönnt ihr aber nix, weil ihr Körper bald vermeldet, dass ihre Tage auch gezählt sind. Darauf folgt der Auftritt (Kapitel 2) von Sohn Tom, der versucht, dieses seltsame Dahinsiechen der Eltern zu begleiten. Eben so, wie die Gesellschaft das erwartet.

Und auch sonst hechtet Tom von einer Baustelle zur Nächsten: Mit seinem besten Kumpel Bernard (Robert Gwisdek) möchte er eine Komposition namens "Sterben" inszenieren. Diese heißt so, weil Bernard depressiv ist und dauernd sterben möchte. Außerdem ist Tom gerade Vater geworden - na ja, irgendwie. Seine Exfreundin Liv (Anna Bederke) hat ein Kind von wem anders bekommen. Tom ist aber durch einige sehr verquere emotionale Brücken Ersatzpapa. Zu allem Überfluss ist Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenberg, Protagonistin von Kapitel 3) erst ganz lange nicht greifbar und taucht dann zu den ungünstigsten Gelegenheiten auf. Das ist so, weil Ellen Alkoholikerin ist.

On-off-Flamme Ronja (Saskia Rosendahl, r.) bleibt oft nur eine Adresse für Quickies und emotionalen Ballast ablassen ©Wild Bunch

Wenn Sterben stark ist, und das ist der Film allermeistens, dann ist er unglaublich stark. Wie zu erwarten hält die Kamera auf alle Ekligkeiten, die Lissy, Tom und Ellen begegnen (da isser wieder, der Lars von Glasner). Aber besonders beachtlich sind die emotionalen Wunden, die's vor die Linse schaffen. Fulminanter Höhepunkt natürlich Kaffee und Kuchen bei Lissy Lunies, wo Mutter und Sohn sich endlich mal sagen, dass sie einander echt nicht leiden können. Nicht aggressiv, nicht vorwurfsvoll - ist einfach so.

Dagegen kommt Anderes gekonnt sensibel daher, wie die Freundschaft zwischen Tom und Bernard. Generell ist Robert Gwisdek das Überraschungsei des Films, weil sein Charakter ein unerträgliches, leidiges, obsessives Ekelpaket ist. Oder zu sein scheint. Später im Film heißt es über ihn, er tue sich seit Jahrzehnten nur selbst leid. Tom schmettert das ab: "Vielleicht möchte Bernard auch einfach mal Ernst genommen werden mit seinem Leid.".
Und plötzlich sehen wir Bernard klarer als einen, der schon ewig erschöpft ist und nicht mehr kann, der außer einer Komposition wirklich nichts mehr zu geben hat. Selten wurde Depression schöner validiert. Ganz viele ähnliche Thematiken, wie Reue über (Nicht-)Mutterschaft oder emotionale Verfügbarkeit wirken absolut nahbar, weil die Charaktere es tun. Es ist so schön, wenn ein Drehbuch mal funktioniert!

Das Unterfangen crasht leider ziemlich mit Ellen Lunies Abschnitt. Der hat nämlich deutlich weniger mit dem Rest des Films zu tun und projeziert alte Alkoholikerkamellen auf die Leinwand. Lilith Stangenberg, die sich für nix zu schade ist und mit aller Kraft das dürftige Material spielt, kommt daher als zotteliger, rotmundiger Vamp, der eher einem tumblr-Blog von 2014 entsprungen zu sein scheint. Hier wird so gar nichts Sagenswertes über Sucht kundgetan, dafür darf Stangenberg sehr nackt und verkorkst sein. Diese Machart ist nicht nur unter dem Niveau des restlichen Streifens, sie ist schlichtweg sexistisch. Kaum ein männlicher Alkoholiker würde so inszeniert und reduziert werden.

Der Co-Star Ronald Zehrfeld, der ebenfalls blank zieht, ist da nicht das Widerlegungsargument, denn es ist nicht er, der in einem absolut peinlich geschriebenen Dialog darüber schwärmt, wie schön er Penisse findet. Anderswo in Sterben bekommen Frauen die denkbar klischeebefreitesten Auftritte. Ein unauffälliges Detail, das solidarische Händchenhalten von Toms Paramour Ronja mit Cellistin Mi-Do (Saerom Park) rührt gar zu Tränen. Am Ende von Ellens Geschichte müssen wir uns fragen: Was genau sollten wir dabei jetzt fühlen? Ekel? Mitleid? That's it? Musste die schlanke, schöne, kaputte Trinkerin dafür so begaffbar für uns sein?

Lillith Stangenbergs (li.) großartiger Einsatz fußt leider auf keinem besonders originellen Charakter. Da kann Ronald Zehrfeld (r.) auch nicht viel unterstützen ©Wild Bunch

Ärgerlich, denn ansonsten ist ja nun wirklich alles da und weitestgehend stimmig. Letztendlich kommt einem der Film gerade wegen dieses Kapitels zu lang vor und man träumt sich eine Schnittfassung von Sterben herbei, in der Ellens Auftritt bis zuletzt herausgezögert wird und in der ihre Abwesenheit aussagekräftiger ist. Dann säße man nur sportliche 2,5 Stunden in der samtigen Umarmung eines Kinosessels und könnte sich umso mehr daran erfreuen, dass Lars Eidinger mal wieder sehenswert spielt.

Dennoch: Det lohnt. Trotz seiner Irrwege bringt Sterben viel Kostbares, Wahres und Aufrichtiges an den Tisch. Nicht nur das, sondern auch Glasners feinfühlige Regie und die ergreifende Klangkulisse (Das in-universe-Stück "Sterben" ist große Klasse) sollte man mit einem Kinobesuch honorieren. In Kapitel 3 geht man dann halt mal eine neue Rhabarberlimo holen.
Don't panic.

Auch hier keine Panik, so prätentiös wie der Trailer ist der Film lange nicht.

Dieser Artikel wurde von einem KiK-Mitglied gegengelesen, das zu bescheiden ist, sich crediten zu lassen.