Nun habe auch ich die Ehre einen ersten Text für unseren lang gehegten Traum eines Blogs schreiben zu dürfen. Das KiK schickt sich nämlich an, den Olymp der Kinokritik zu erobern, um irgendwann so etwas wie die Apothekenumschau in der großen Welt der Filmbewertungsszene in den Händen zu haben. Ein Blog mit Herz und Verstand also, und hoffentlich 4-6 regelmäßigen Lesern. Da wir hier nicht nur Playknöpfchendrücker und Kaschierungsschließer sind, sondern vor allem auch Knowledge Worker, soll sich dieser Text nun ein bisschen der italienischen Filmgeschichte widmen. Dem Ein oder Anderen mag die Idee zwar etwas antiquiert erscheinen, dafür Kommunikationswege zu beschreiten, die das Feuilleton schon vor mehr als 10 Jahren für tot erklärt hat. Aber jene solches vorbringenden Neider, die das bei den erwartbar hohen Flügelschlägen des Erfolgs hier bald nur noch sehr leise flüstern werden, sollten mal sehen, wie wir täglich in unserem wunderbaren Kino den Alltag bestreiten! Das Licht jagen wir oft genug noch durch 35mm Streifen und häufig faxen wir sogar - als ob die 90er nie verblichen wären. Wir dürfen das also: einen Blog. Und wer sagt, er hätte lieber einen Podcast gehört, der kann ja gern unsere Einträge laut vorlesen und sich gleichzeitig selbst zuhören. Man kann auch bei unseren Kumpels vom DRR  vorbei schauen (Aber bitte nur kurz und gleich wieder kommen!). Oder man öffnet die Autorenseite und denkt sich beim Vorlesen, dass sich die Münder der Autoren auf unseren Photographien mitbewegen. Dabei zeigt sich auch, was uns, das Kino im Kasten, von allen anderen Dresdner Programmkinos abhebt: das mit Abstand hübscheste Team! Aber wir haben natürlich viel mehr drauf als nur gut auszusehen und zudem hat unser junges Kollektiv enthusiastischer Frischschreiberlinge gewiss noch so manche Überraschung für die Zukunft in petto!

Überrascht war ich neulich, als ich hörte, dass ein neuer Orson Welles Film (The Other Side of The Wind) heraus kam. Wie bitte? Hat denn der gute, gewaltige Mann aus dem Grab heraus mit der kalten Knochenhand am Schneidetisch einen Film mit dem letzten Schliff versorgt? Die Zeiten in denen neue Filme von dem herauskamen, gehören doch in die schwarz-weiße Erlebniswelt meiner Oma! Fragte ich die jetzt aber nach ihm, würde sie leider nur im schlichten Sächsisch antworten: "Mordin, dutt mor leid, den kennsch ni", und mir eher ihre interne Liste der Liselotte Pulver Neuerscheinungen der 50er Jahre runterrasseln, als diese noch auf Geheiß sexistischer Regisseure ihren Popo keck in die Kamera hielt. Wäre meine Großmutter aber eine cinephile Lebedame, aus der Weltstadt Paris vielleicht, dann könnte sie mir sicher nicht nur aufregende Geschichten berichten vom Erstkontakt mit Orson Welles Ouevre oder wie sie vor der Cinematheque mit Jean-Pierre Léaud herumgeknutscht hat, nein, sie erzählte mir auch im belehrenden Ton, dass jüngst unter der Ägide Peter Bogdanovichs ein nie vollendeter Welles aus den 70er Jahren schnittmäßig fertig gestellt wurde. Ohne dass dessen schauerliche Knochenhände im Spiel gewesen wären, hat man dieses Meisterwerk dann leider am Kino vorbei den ganz patenten Händen von Netflix überantwortet. In der Zeit, als die eigentliche Fertigstellung anstand, war der gute Regisseurkoloss wohl mit anderen Dingen beschäftigt, oder hatte kein Geld, wenngleich er damals noch sehr lebendig war.

Naja, mehr oder weniger

Peter Bogdanovich und sein mittlerweile auch längst verblichener Kollege John Huston spielen in diesem phantastischen Großwerk Regisseure, denn Welles hatte vor, einen Film über das Filmemachen zu produzieren. Solche Werke kitzeln bei den Kritikern so eine ganz bestimmte Stelle im analytisch geschulten Kopf und sie rufen beglückt: "Mmmh, Selbstreferenzialität!". Selbstreferenzialität im Kino läuft folgendermaßen: ein Regisseur dreht einen Film über sein Metier und kann dabei ganz, ganz viele Dinge, die beim Entstehungsprozess seiner Filme passieren, filmisch gleich mit verarbeiten. Ein recht dankbares Feld also. Und ein halbwegs gut bestelltes. Fragte man mich z.B. nach einem meiner Lieblingswerke, dann rufe ich immer laut "Die Verachtung" (oder Le Mépris, was ich aber leider im richtigen Leben nur schlecht aussprechen kann). Das ist ein Superfilm von Jean-Luc Godard, der damit ein schwer allegorisches Werk über das Kino selbst gemacht hat und in dem Brigitte Bardots Hintern in gleich drei Farben zu sehen ist. Hier wird so etwas wie die personifizierte Kunst in Form der Drehbuchautorengattin Camille (Bardots Rolle) einem widerlichen amerikanischen Produzenten geopfert. Der Autor stellt sie ihm als Gespielin zur Verfügung, damit er einen Job beim Film bekommt und der hier sich höchstselbst spielende Fritz Lang muss sein der klassischen Filmkunst verpflichtetes Werk auf Geheiß des Geldgebers vom Autor trivialisieren lassen. Die Kunst wird auf dem Altar des Geldes und verfehltem Aufstiegsdranges verwässert, Bedingungen, unter denen nicht nur Godard leiden und drehen musste. Die Bardot z.B. so häufig nackt zu zeigen, war eine Forderung seiner Financiers, welche er dann im Film geschickt kritisierte. Ihr seht also bestens das Potential solcher Filme. Obendrein und gratis drauf gibt uns Godard noch das herrliche Capri, die immer rauchende Halbglatze Michel Piccoli in der Hauptrolle, die drei Grundfarben, ja, und das legendäre Cinecittà. Wer's nicht kennt, es ist plump gesagt so etwas wie das italienische Hollywood. Gedreht hat er das ganze 1963.

Italien, Cinecittà und 1963 also. Damit ist ganz plötzlich das Riesentor zur Überleitung auf unser eigentliches Thema aufgestoßen und ich wäre schön blöd, das jetzt wieder zuzustoßen! Nun, kurz gesagt: Anita Eckberg war noch nicht ganz getrocknet, da kam in jenem Jahr noch ein weiterer dieser aufs Filmemachen fixierten Streifen in die Kinos der Welt, der bis heute in der Cella des Tempels der Filmkunst auf einem ganz hohen Sockel steht: Achteinhalb. Dieser und Godards Meilenstein haben sogar noch eine weitere Gemeinsamkeit: es darf nun nach Brigitte Bardot eine weitere Film-Biz-Alliteration folgen, nämlich die des Regisseurs Federico Fellini, der Großmeister des italienischen Kinos, der Achteinhalb schuf.

Eine Alliteration im Namen zu haben ist, glaube ich, eine ziemlich prima Sache. Meine Eltern haben da bei mir leider ganz schön versagt. Doch weil zum Erwachsenenleben gehört Verantwortung zu tragen, müsste ich eigentlich morgen schon zur Standesbeamtin sausen und mich in Marvin Mc Monsterbacke umbenennen! Fortan kämen hier von mir nur noch Horrorfilmkritiken: "...atmosphärisch gelungener Teenie-Schocker...mit einer sehr schönen Grundprämisse...verleiht dem Genre ganz neue Impulse...Dario Argento...Horrorfilm-Fans auf keinen Fall entgehen lassen", die Buzz-Words kann ich schon.

Das surrende und vibrierende Wort des italienischen Kinos der 40er und 50er Jahre war hingegen der "Neorealismo", oder teutonisiert: der Neorealismus. Diese unter der italienischen Avantgarde ungemein populäre Strömung versuchte jenseits von ausgefeilten Geschichten bürgerlicher Akteure, welchen das konventionelle Kino großen Raum gab und die im richtigen Leben ja eigentlich keiner mag, sich lieber auf die einfachen Menschen™ zu konzentrieren und ihre ebenso einfachen Geschichten zu schildern. Klingende Namen wie Luchino Visconti oder Vittorio De Sice sind Vertreter dieser Bewegung. Letzterer schuf neben zahlreichen anderen Einfacheleutefilmen sein stilprägendes Hauptwerk: Fahrraddiebe (Ladri di biciclette, 1948), der Werbefilm für "Abus" schlechthin. Präventive Sicherheitstechnik geht uns alle an und ihr Fehlen kann einfache Leute™ schnell in tiefes Unglück stürzen, wovon dieser Film, ja, viele dem Neorealismo zuzuordnende Filme, erzählt. Und wir Studenten können noch immer ein Lied davon singen.

Kauft Euch Schlösser! [1]

Fellinis frühe Filme haben diese tiefe Not nicht getankt. Ihre Protagonisten sind zwar oft ebenso einfache Menschen™, Gaukler und Künstler, Halbweltler und Tagediebe oder Prostituierte, doch ihre Schicksale sind nicht so schablonisierbar für Forderungen nach einer besseren Welt. Der oft mit roten Fahnen mitwehende politische Anspruch der sich nicht selten dieser politischen Strömung verpflichtet fühlenden Vertreter des Neorealismus fehlt Fellini. Seine Geschichten sind individueller, weniger verallgemeinerbar und vor allem eins: poetischer. Jene, die film- oder literaturhistorisch bewandert sind, wissen um den poetischen Realismus und können womöglich sogar den Begriff des magischen Realismus den Windungen ihres Hirns entziehen. Beides Strömungen, die eher den Allerwelts-Schicksalen verhaftet bleiben, ihnen aber auch eine zumindest melancholische Schönheit abgewinnen können, oder eben sogar Übersinn- und Überweltliches ins Leben der Porträtierten brechen lassen. Wer sich einmal einen wunderbaren Abend machen möchte, der gehe in die, neben dem Kino im Kasten, zweite große Standsäule der Dresdner Filmkultur: die Filmgalerie Phase IV (bitte sowieso oft hingehen oder am besten Mitglied werden) und leihe sich "L'Atalante" des viel zu früh gestorbenen Franzosen Jean Vigo aus: darauf folgt zwangsläufig ein nimmermüdes freudiges Zurückerinnern an dieses Werk, das die Filmgeschichte mit Fug und Recht zum stilprägenden Smash-Hit des Poetischen Realismus erkor.

Doppel-F's früher Erfolg war "La Strada" (Das Lied der Straße, 1954) , ein italienisches "L'Atalante", denn poetischer Realismus war voll Fellinis Ding. "Mach mal hier nicht den großen Zampano!", sagen die Leute mitunter, wenn sie einem sich aufbäumenden Rüpel die Speerspitze seiner Rüpelei nehmen wollen. Aber nur ca. 3,8 % von denen, die das sagen, wissen, dass sie damit eigentlich auf die Hauptrolle dieses Fellini-Films verweisen: einen kraftstrotzenden Muskelkerl namens Zampano, mit gewaltigem Brustumfang. Ihm zur Seite, und schwer misshandelt, ist die niedliche Gelsomina gestellt worden (er kauft sie ihrer Mutter für 2000 Lire ab, ich hoffe meine Mutter verlangt mehr für mich), gespielt von Giulietta Masina. Das ist die Frau von Fellini. "Nepotismus!", mögen jetzt einige rufen, doch sie hat es sich schwer verdient da zu sein, durch schauspielerisches Können. In dem bezaubernden, traurigen Märchen, spielt Masina einen Clown, abhängig vom grobschlächtigen Zampano.

Sie hätte ich übrigens auch gern als Omi gehabt, denn im Kino im Kasten käme der Satz "Ich bin ja übrigens auch der Enkelsohn von Federico Fellini" bestimmt prächtig an und er könnte als Einleitung belehrender Korrekturen anderer bei ihren vermeintlichen Fehlbewertungen von Filmen (Öhm, Lukas, ich bin der Enkelsohn..., aber ich darf ihn nicht verärgern, sonst nimmt er mich nicht mehr mit in die Sächsische Schweiz) bis zur Augenrollen erzeugenden Häufigkeit wiederholt werden. Masina spielt in 5 oder 6 oder 7 Filmen (ich bin zu faul für akribische IMDb Recherchen) von Fellini Rollen, u.a. auch die Hauptrolle als Prostituierte in "Die Nächte der Cabiria" (Le notti di Cabiria) von 1957. Nach diesem Film setzt eine deutlich wahrnehmbare Wandlung im Fellinischaffen ein.

Giulietta Masina in hochaufgelöster Pracht [2]

Der Folgefilm "La Dolce Vita" (Das süße Leben, 1960) hat viele hübsche Szenen. Eine ist aber besonders schick: während einer Pressekonferenz in einem Hotel wird die noch nicht Trevibrunnen-nasse Schauspielerin Sylvia (Anita Eckberg) aus den USA mit einem Fragen-Stakkato überschüttet. Einer der Journalisten fragt sie, ob sie glaube, dass der italienische Neorealismus tot sei. Der ihr beigegebene Dolmetscher übersetzt die Frage aber gar nicht erst und antwortet für sie abrupt: "er lebt". Natürlich dampfte diese Strömung aber damals in Italien schon längst dorthin, wo Orson Welles heute liegt. Wenngleich sie, wie der Regisseur, bis heute nicht gänzlich totzukriegen ist, worüber man sich durchaus freuen kann. Auch bei Fellini tut sich einiges: oberflächlich haben wir in Das süße Leben schon ganz andere Protagonisten, die Vertreter der High Society. Doch es tut sich viel mehr: der Hautprotagonist Marcello (Marcello Mastroianni, wir merken uns den Namen gleich mal) wandelt als teilnehmender Journalist durch die derangierten Welten der sogenannten Reichen und Schönen. Wenig entwickelt sich hier, keine Charakterkatharsis, keine riesengroßen Handlungsverläufe und schon gar kein durcherzähltes Märchen wie es La Strada noch war. Es ist eher ein Miterleben in gedehnten Sequenzen. Viel mehr ist vom Plot gar nicht zu sagen. Womit sich die Frage stellt: wie bitteschön füllt der Herr italienische Großregisseur eigentlich dann die fast drei Stunden Laufzeit?

Damit soll nun endlich auch der Film Achteinhalb (Otto e mezzo, 1963) ein bisschen zur Sprache kommen, mit dem ich eine Antwort auf diese Frage wagen will. Um nicht den schönen großen Bogen aus dem Auge zu verlieren, soll hier noch Erwähnung finden, dass dieser Übergang im Stil des Regisseurs mit Achteinhalb einen vorläufigen Höhepunkt findet, aber noch nicht ganz abgeschlossen ist. Die Fellinifilme danach allerdings lassen sich dann ziemlich gut erkennen. Um es einmal auf eine Formel zu bringen: es ist wie bei Loriots (unserem Humorfellini!) Weinsketch im Hause Hoppenstedt "[...] das ist Qualität, einer wie der andere!". Damit nicht der Eindruck von Despektierlichkeit aufkommt, könnte man auch von einer Handschrift sprechen, einer wunderschönen sogar in Fellinis Fall.

Weil wir gerade bei Weihnachten sind, während ich hier unter dem immer schwerer lastenden Termindruck unserer strengen Blogtextabgabezeiten Zeilen schaffe (als Zeilenschaffender), stieg in mir ein Bedürfnis nach Gebäck auf. Ich ging zu meinem um keine Konditorpretiosen verlegenen Bäcker auf der Straße und bekam für 2,30 € ein winziges Stück Frankfurter Kranz. Das muss man sich einmal vorstellen! Zur Kompensation dieser Frechheit musste ich erstmal auf meinem Bürostuhl mehrere Kreise durchs Wohnzimmer drehen. Dabei kam mir in den Sinn, dass wir im KiK vielleicht auch etwas mutiger beim Ausreizen unserer Marge sein sollten. Cola? 5,50 €.  Ein Bio-Pils? 9,90 €! Niemand darf die August-Bebel-Straße mehr verlassen, ohne wenigstens einen "Zwanni" über die Theke geschoben zu haben. Astronomische Preise für astronomisch gutes Kino.

© Sony Pictures Entertainment Deutschland GmbH

Und jetzt steht da nun plötzlich diese Rakete im Text (wer keine Rakete sieht, muss nochmal genau hingucken oder einfach weiterlesen). Das ist zwar keine der heute so populären Reichsflugscheiben, die mit einem Axel-Stoll-Antrieb die dummen, dummen Arier zurück zum Aldebaran schiebt, aber mindestens ein ebenso wahnwitziges Projekt zur Flucht von der atomar verseuchten Erde. Natürlich ist es keine richtige Rakete, das sieht man ja. Vielmehr eine Art Gerüstekonglomerat, das mithilfe von vor die Kamera gestellter Glasmalerei den Eindruck einer Rakete erzeugen soll. Und warum steht das da 'rum? Natürlich um einen Film zu machen. Einen Film nämlich, den der Film Achteinhalb behandelt. Obwohl das unpräzise ist, diesen Science-Fiction-Film im Film streift er nur. Im Mittelpunkt steht der gut behutete Regisseur Guido. Dieser hat sich nun dieses Drehbuch mit der Rakete ersonnen. Doch sie will und will nicht starten, denn das Filmtalent steckt in einer schweren Schaffenskrise und muss zur Kur. Hier beginnt Achteinhalb und Marcello Mastroianni, der aus dem Gewand des Journalisten schlüpfte, um sich jenes des Regisseurs für Achteinhalb überzuziehen, hat eine Glanzzeit seiner schauspielerischen Leistungen.

Erinnert ihr Euch an die Selbstreferenzialität von weiter oben? Fellini hat hier voll zugeschlagen. Er steckte selbst in einer Schaffenskrise, war ausgebrannt und ideenlos, wie ich nach diesen über 2000 Worten. Doch das wahre Genie zeigt sich in der Krise: er machte einfach einen Film daraus! Nun sind die Erlebnisse, die man im Produktionsprozess macht, sicher nicht immer angenehm. Und da ich mich noch aufgrund des Tortenverzehrs in der Nähe meiner Küche befinde, darf ich hier auch ein wenig psychologisieren: ich glaube nämlich, da staut sich 'was an, wenn man im Business steckt. Und hola, das alles holt Fellini in großer Virtuosität hervor. Sein Protagonist und alter Ego durchstreift persönliche und berufliche Krisen aller Art in einer Tour de Force von über zwei Stunden. Denn alle wollen etwas vom Filmschaffenden: der Geldgeber, der Drehbuchautor, die Fans, die Schauspieler, die Dekorateure, die Presse, die Intellektuellen. Doch ihm fehlen die Antworten. Und so kreist er recht hilf- und ziellos durch diese Welt. Genervt ist er und verunsichert, abgerockt und ausgebrannt, ach ja, und ziemlich aufgegeilt noch dazu. Dem Blusenheld sitzt nicht nur die Geliebte im Nacken; die aus den Trümmern der Ehe zur Kur hinzugerufene Ehefrau taucht auch auf und belastet ihn mit Unzufriedenheit und Sinnfragen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Schakal der Wollust in jedem Gebüsch lauert. Schwierige Bedingungen, um einen Film fertig zu stellen, dem der Rahmen fehlt. Diese Welt erzählt uns Fellini, und das meist auf seine ganz bestimmte Art, die hier erstmals die Ausformung erhält, welche sich auch später immer wieder finden lässt. (ACHTUNG: das folgende Video NOCH nicht benutzen!):

Um uns den besser vorzustellen, setzen wir uns erstmal wieder in meinen Bürostuhl, und drücken genau jetzt auf den Youtube Link. Egoperspektive! Wir rollen langsam durch die Tür in den Projektionsraum des KiKs: Paulo kommt aus dem Raum auf uns zugelaufen, ruft "Hallöchen, sag mal, wolltest Du nicht den Blog-Artikel fertig schreiben?" und geht links ab, von rechts taucht Franziska auf und sagt ganz schamlos halb an unserem Gesicht vorbei "Da hättest Du gestern lieber nicht mit zu The Lobster gehen sollen!", verschwindet dann auch nach links, aus der Richtung kommt dafür Tim: "Ach, Du warst gestern Film gucken ohne zu schreiben?", weg nach rechts. Im Hintergrund vor dem Projektor stand die ganze Zeit Lukas, lieb lächelnd wie immer, und meint "Ich habe Deine Bewertung von Blade Runner bei letterboxd gesehen, das kann ich zwar akzeptieren, aber ehrlich gesagt nicht so richtig nachvollziehen". Wieder kommt Franziska von links und schaut uns eindringlich an: "Meinst Du, die Tierwesen in The Lobster sind wirklich noch die ursprünglichen Menschen, oder ist das eine Metapher für den Tod. Ich bin mir da unsicher.", auch Paulo taucht wieder auf, dieses Mal von rechts und laut zu allen: "Leute, wir müssen noch den Saal für heute Abend vorbereiten", und nochmal Lukas: "Du hast dann vielleicht nochmal die Gelegenheit mir das zu erklären". Franzi: "Ich meine, wie soll man denn mit dieser Operationstechnik die Seele verpflanzen? Was meinst Du?", jetzt fährt Philipp plötzlich mit Franzis Rennrad um uns herum (Helm auf, Philipp!), verschwindet immer wieder und taucht auf. Dabei fragt er: "Sag mal Martin, sind unsere Getränkepreise nicht viel zu niedrig". Nochmal sagt Lukas "Ich meine, hast Du schonmal so eine gelungene Fortsetzung gesehen?". Schnitt (bitte die Musik ausmachen): langsam tritt Leo ein, man sieht uns selbst im Stuhle sitzen. Etwas Nebel schwebt im Projektionsraum, als ob jemand die Blende vom 35mm nicht zugemacht hat, die anderen sind weg. Irgendwie ist es auch dunkler. Den Stuhl schiebt von hinten der Neu-hinzugekommene ein wenig nach vorn, hält sein Gesicht ganz nahe an das Ohr und sagt: "Maaaartin, der Blogeintrag!". Jetzt steht meine Großmutter vor mir, ich gehe zu ihr: "Oma, ich kann diesen Eintrag nicht beenden!", doch sie wendet sich mit den Worten ab: "Geh' doch zu Guiletta Masina oder zu Deiner Lebedame nach Paris, die helfen Dir vielleicht", "Aber Großmütterchen!", sage ich noch. Alles verblasst und ein Friseur mit einer manngroßen Schere ruft meinen Namen.

Opi!

"Solche Sachen träume ich wirklich!", würde ich jetzt gern schreiben, was natürlich Quatsch ist. Ich träume wie alle anderen auch von großen Autos und reichen Frauen. Hoffentlich ist der Versuch der Transferleistung Fellinis Schaffen von der Leinwand in das schönste Kino der Welt als Illustration seines Stils trotzdem halbwegs gelungen. Was wir nämlich in den besten Sequenzen zu sehen bekommen, sind perfekt choreographierte Szenen mit dutzenden Schauspielern, die sich durch die Szenerien bewegen und mehr oder weniger themenbezogene (die Fülle des Geäußerten rechtfertigt diese nebulöse Formulierung) Sätze äußern. Mitunter ist das als lange Plansequenz ausgeführt oder etwas strukturierter durch eine höhere Anzahl von Schnitten. Die Sets sind zwar leicht entrückt, doch in Achteinhalb noch sehr realistisch (spätere Fellini-Filme erkennt man an den stark verfremdeten, der Realität nur noch entlehnten Dekors; es gibt  z.B. ein regelrechtes, immer wieder auftauchendes Felliniwasser: 1, 2, 3). Dazu in allen Klangfarben und Stilrichtungen die oben schon verlinkte wunderbare Kirmesmusik Nino Rotas, der sowieso immer die Soundtracks für Fellinis Filme schuf und die so wunderbar zur oft fröhlichen Stimmung des Filmes passt. Gelegentlich hören wir auch das Kurorchester mit der Ouverture zu Rossinis Diebischer Elster, Nussknacker Märschen und in der zentralen Traumsequenz des Films den Ritt der Walküren.

Achteinhalb hat, wie sein Vorgänger, ein Plotgerüst von negligéhafter Dünne. Der Film konzentriert sich ganz auf die Erlebniswelt des Regisseurs Guido, ergänzt diese aber um ein zentrales Thema, das in vielen späteren Filmen Fellinis enorm wichtig werden wird: den Traum. Guidos Kindheit, seine Beziehung zum Katholizismus, seine Beziehung zu Frauen, Wünsche, seine Obsessionen, all das wird darin ausgehandelt. Diese Träume brechen während des Films erst zaghaft, dann immer häufiger in die Realität ein, brechen oder reflektieren diese. Mehr und mehr wird später beides vermischt und es liegt oft zunächst ein Schatten des Unklaren darüber, ob das, was wir gerade sehen, ein Erleben oder ein Gespinst des Regisseurs ist. Wie surreale Sequenzen erleben wir dann das plötzlich seine Innerlichkeit aufgebende Unterbewusstsein Guidos. Damit liegt auch das Innere des Fellini Alter Egos mitunter ganz offen dar. Nicht, dass ihm oder uns das helfen würde. Seine Ideen, Wünsche oder Bedürfnisse brechen wie bei Tagträumen üblich ganz unvermittelt in die Welt. Hollywood, das gern seine Zuschauer unterschätzt, weil es weiß, was die sich manchmal so für Präsidenten wählen, machte in seiner klassischen Zeit immer alles überdeutlich. Traum und Wirklichkeit sind klar unterscheidbar und durch Stilmittel voneinander abgesetzt. Wie damals die DDR von der BRD klar unterscheidbar war, weil der Kapitalismus andere Stilmittel verwendete (abgeranzte Altbauten mit Leuchtreklame, alle Menschen trugen Jeansjacken mit vollen Taschen, Cinemascope) als der Sozialismus (abgeranzte Altbauten, alle Menschen trugen Jeansjacken, Totalvision). Fellini braucht das nicht und überlässt die Unterscheidung uns. Damit wird auch die zentrale Gestalt Guido mit den echten oder vermeintlichen Erlebnissen zu einem Objekt der Analyse. Wir werden hier alle beim Beobachten zu Psychologen und Traumdeutern gemacht bzw. schauen Fellini beim Ausdeuten seiner selbst zu. In einer der zentralen und stärksten Szenen des Films erfährt der Held eine Art Katharsis, als er beginnt, sich seinen inneren Gefühlen im diese bejahenden Sinne zu stellen und ihre Richtigkeit nicht mehr verleugnet. Weg von dem Verdrängen der Phantasie, hin zu ihrer Bejahung: ein Haus mit allen Frauen, die er jemals begehrt hat, erträumt sich Guido dann, die ihm dort, anders als in der Realität, zu Füßen liegen und eben nicht zu schaffen machen. Das die inszenatorische Höhe des Films darin am deutlichsten wird, sei zu erwähnen hier am Ende ohne Begründung erlaubt, da die Qualität des Films eben nicht in spektakulären Plottwists liegt, sondern im aparten Inszenieren trister Realität und innerlicher Traumwelten. Was da passiert oder wie genau das vonstatten geht zu verraten, wäre also gemein.

Vor allem uns gegenüber, denn diese Aussage ist am kommenden Dienstag im KiK überprüfbar. Genauso überprüfbar, wie die hier unbeantwortet gebliebenen Fragen, ob ihm die Katharsis nun etwas bringt oder nicht, wo es hinführt mit seinem Film mit dem aufregenden Drehbuch, ob Fellinis Werk wirklich Platz 9 der besten Filme aller Zeiten gebührt, und ob Fellini Antworten auf diese bisher unentschiedene Frage gibt:

Diese Frage nämlich.

Gut. Das war nun ein kleiner Ritt. Wir haben bei Welles angefangen, Godard und die italienische Filmgeschichte gestreift, haben, wie bei jedem gelungenen Aufsatz, mehrmals das Wort Hintern und Popo gelesen und sind nun auch mit gewissen Wunschgroßmüttern von mir vertraut. Wenn etwas hängengeblieben ist zu Fellinis Stil, dem Wendepunkt, den Achteinhalb innerhalb seines Oevres vom poetischen Erzählfilm hin zum eher mit traumhaft-surrealen Einsprengseln versehenen Erlebnisfilm gemacht hat und sich das womöglich sogar plausibel anhörte, wäre ich glücklich. Überglücklich hingegen wäre ich, wenn sich irgendjemand nach dem Lesen auf ins KiK machen würde, um den Film zu sehen oder mir wegen der Blade Runner Bewertung eine reinzuhauen, um sich dann im Anschluss den Film anzuschauen (auf der Autorenseite wurde übrigens aus irgendwelchen Gründen mein Bild mit dem von Philipp vertauscht). Und bitte drückt mir die Daumen, dass ich die Nino Rota Melodie, die mich seit anderthalb Wochen zum zwanghaften nachpfeifen zwingt, irgendwann im nächsten halben Jahr aus meinem Kopf kriege.

Ach, und wer es nicht 'eh schon wusste, hier noch eine kleine Addition:
Achteinhalb  = 6 Langspielfilme + 2 Kurzfilme + 1/2 Film als Co-Regisseur = Fellinis Filmbilanz bis 1963

Bilder:

[1] Nino Barbieri, "Bicycle lock", keine Änderungen, https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:-Anti-theft_device-.jpg, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/deed.de

[2] Eric Koch / Anefo - Nationaal Archief, "Giulietta Masina (1966)", keine Änderungen, https://de.wikipedia.org/wiki/Giulietta_Masina#/media/File:Giulietta_Masina_(1966).jpg, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en