“Because it was a hell, and it lives with me forever.” – Elem Klimow

1871 malt der russische Künstler Wassili Wereschtschagin  ein seltsames, seltsames Bild. Es zeigt viele Totenschädel in einer Wüstenödnis, um sie herum kahle Bäume und kreisende Krähen, im Hintergrund die vage Andeutung einer Stadt. Die Schädel sind zu einer Pyramide aufgetürmt und wirken so wie ein minimalistisches und gleichzeitig überzogenes Vanitasstilleben. Es ist eine helle Szenerie mit einem idyllisch blauen Himmel, deren perverse Schönheit durch die nach Essen heischenden Vögel noch mehr befremdet. Etwas unterhalb des Bildmittelpunktes ist einer der Schädel direkt auf die Audienz gerichtet, der Kiefer weit aufgesperrt. Wir werden entweder angeschrien oder ausgelacht.

Wereschtschagin kreiert dieses Werk als Teil einer Reihe, die als die „Turkistan-Reihe“ bekannt werden soll, eine Serie von Bildern über die russischen Eroberungskriege in Zentralasien. Die enthaltenen Landschaftsmalereien finden weitläufig Zuspruch, aber nicht so die offensichtlich provokante Leichenschau, die den Titel Die Apotheose des Krieges trägt. Apotheose – Das ist schlaue-Menschen-Sprech für eine Verherrlichung. Um den Affront vollkommen zu machen, versieht Wereschtschagin das Bild mit der Widmung: „Für alle großen Eroberer der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Die russische Armee versteht diesen Wink sofort; Kriegsmalerei, die die ruhmlosen Folgen eines Krieges darstellt, ist eben keine gute Rekrutierungsmaßnahme für frisches Blut, das fernab der Heimat vergossen werden soll.

Bringt seit 150 Jahren Kunststudierende um den Schlaf: Die Apotheose des Krieges

Mehr als 100 Jahre später dreht der Regisseur Elem Klimow einen Film, der mit der Zeit als ein Autoritätswerk im Bereich Kriegskino angesehen werden wird. Zufällig ist auch er Russe, aber sein Krieg ist ein anderer. Mit der biblischen Aufforderung Komm und sieh schickt er uns nicht nur auf eine Reise durch die finstersten Wälder Weißrusslands, sondern auch durch die dunkelsten Abgründe der menschlichen Seele und zeigt uns die allumfassendste Zerstörung, die wir gegeneinander richten können. Um zu verstehen, was Komm und sieh bis heute so verstörend, so eloquent und so wahr macht, müssen wir uns auf die Suche nach einem Mann begeben, der vom Leben die höchsten Höhen und tiefsten Tiefen kannte.

Agonie, oder eine Liebesgeschichte

Elem Germanowitsch Klimow wird am 9. Juli 1933 geboren. Seine Eltern sind glühende Kommunisten und benennen ihn nach den Ikonen der Bewegung: Engels, Lenin und Marx. In einer bitteren Doppeldeutigkeit, die Klimow sein Leben lang begleiten wird, existiert „Elem“ im Türkischen auch als „das Leid“. Bei der Schlacht um Stalingrad lernt der fast 10-jährige Klimow dieses zu genüge kennen, als seine Mutter, sein Bruder und er auf der Flucht Kälte, Hunger und Gräueltaten erleben. Später wird er sagen, dass er unmöglich all seine Kriegserlebnisse in Komm und sieh hätte abbilden können – nicht einmal er hätte sich das Resultat angesehen. In einem Gestus, der ebenfalls charakteristisch für ihn werden soll, macht er trotzdem weiter- als junger Mann studiert Klimow Flugingenieurswesen in Moskau und überlegt zu schreiben, ehe er sich doch für den Film entscheidet.

Am Gerassimow-Institut für Kinematographie hat der inzwischen 30-jährige eine Begegnung, die sein Leben für immer verändern wird. Es ist 1963 und am Institut studiert lediglich eine Frau: Die 22-jährige Ukrainerin Larisa Schepitko. Sie ist bildschön und ungewillt, sich auf dieses Attribut zu verlassen, ambitioniert genug, um ihren Abschlussfilm Hitze bei 50 Grad Celsius zu drehen und fatalistisch genug, um sich von einer Gelbsucht-Infektion nicht abhalten zu lassen. Natürlich ist sie zu Beginn längst nicht so begeistert von ihm wie er von ihr. Aber als er der überstrapazierten Regisseurin im Schnitt von Hitze aushilft, wird die Seelenverwandtschaft offensichtlich. Klimow respektiert Schepitko und behandelt sie in der Kunst, im Humor und gesellschaftlich als ebenbürtig. Rare Eigenschaften für diese Zeit und für eine maskulin-gerichtete, russische Mentalität. Sie heiraten noch im selben Jahr.

Ein gemeinsames Leben vor und hinter der Kamera: Schnappschüsse vom Ehepaar Klimow-Schepitko

Dass sie ihr Leben so intim wie kaum sonst ein Paar teilen können, bleibt lange Zeit der einzige Trost. Russische Filmschaffende unterliegen einer starken Zensur durch den Staat. Junges, aufmüpfiges, ehrliches Kino zu machen scheint unmöglich. Sie wählen verschiedene Ansätze und verfolgen das selbe Ziel: Klimow sucht die Wahrheit im Humor, der ältesten Waffe gegen Tyrannei. In seinem Spielfilmdebüt Herzlich willkommen oder Unbefugten Eintritt verboten (1964) spinnt er ein Ferienlager mit einem übermäßig restriktiven Schulleiter als deutliche Parabel auf den russischen Staat. Im nächsten Jahr zeigt er in Die Abenteuer eines Zahnarztes auf, wie die Gesellschaft mit unkonventionellen Talenten umgeht (hier im Falle eines singulär begnadeten Zahnarztes, der schmerzfrei behandelt und kein Sadist ist!). Schepitko erzürnt 1966 mit Flügel, einem ehrlichen Portrait einer ehemaligen Pilotin, die nach dem Krieg ihren Platz in der Gesellschaft und sich selbst verloren hat. Noch kritischere Töne schlägt Aufstieg von 1977 an: Zwei russische Partisanen und eine junge Mutter geraten während des Zweiten Weltkrieges in die Fänge der deutschen Miliz. Einer von ihnen begeht einen verachtungswürdigen, zutiefst verzweifelten Verrat.

Zunehmend muss Klimow als ihre Stütze fungieren, denn Schepitko treibt sich selbst zum Äußersten. Durch die stetige Drangsalierung der Zensurbehörden erleidet sie einen Nervenzusammenbruch. Ihr Körper ist so geschwächt, dass die Geburt des gemeinsamen Sohnes Anton 1973 sie beinahe umbringt. Und doch kehrt sie mal um mal ans Set zurück, sucht nicht den leichtesten, sondern den besten Weg. Jeden Film dreht sie, als wäre es ihr Letzter. Jahrelang bekniet sie den Autor Walentin Rasputin, seinen Roman Abschied von Matjora verfilmen zu dürfen und wirft sich mit vollem Einsatz ins Projekt, als er endlich zusagt. Am 2. Juli 1979 fährt Shepitko mit vier Mitgliedern ihrer Crew mögliche Locations ab. Es ist noch Frühmorgens. Womöglich nickt der Fahrer des Wagens für einen kurzen Moment weg. Niemand wird es je genau wissen. Der resultierende Crash tötet alle fünf Insass:innen. "Es ging so schnell, man fand nicht einmal Adrenalin in ihren Körpern", resümiert der befreundete Regisseur Andrei Tarkowski fassungslos. Doch für niemanden könnte diese Katastrophe apokalyptischer sein als für Elem Klimow.

Am Set von Agonie: Fast 10 Jahre kämpft Klimow um seine Rasputin-Studie

Und wieder einmal steht der Regisseur vor einem Scherbenhaufen, aus dem manch Anderer sich nicht wieder hätte erheben können. Aber Klimow macht weiter, nicht zuletzt, weil er sich auf einer Mission wähnt: Abschied von Matjora muss vollendet werden, das scheint alternativlos. Nachdem er den Film 1981 stellvertretend für seine Frau fertiggestellt hat, widmet er ihr einen eigenen Kurzfilm und trägt ihren Esprit in seinen Arbeiten weiter. Den Elem Klimow, der Unschönes durch die Blume formulierte, gibt es nicht mehr. In Agonie, gedreht ab 1973 und veröffentlicht 1981, zeichnet er den Untergang des Zarenhauses Romanow und die letzten Monate im Leben des enigmatischen Rasputin nach. Der ganze Film ist überschattet von einer düsteren Untergangsstimmung in Verbindung mit perfide opulenten Kulissen. Alexei Petrenko brilliert als der vermeintliche Wunderheiler, der dem Publikum Tür und Tor in die Abgründe der Bourgeoisie öffnet. Eine ähnlich starke Performance sucht Klimow für sein nächstes Projekt, das gleichzeitig seine größte Herausforderung werden soll: Die Hölle seiner Kindheit soll ein auf Celluloid gebanntes Gesicht bekommen.

Fljora und das fahle Pferd

Es ist 1984. Der 40. Jahrestag des sowjetischen Triumphes und Gorbatschows Ernennung zum Generalsekretär liegen noch ein Jahr entfernt. Goskino, das staatliche Organ für die Filmkontrolle, ist etwas in Feierlaune und hätte gerne ein episches Kriegsdrama. Und Elem Klimow sitzt seit sieben Jahren an einem Drehbuch über den Zweiten Weltkrieg, das niemand absegnen oder produzieren will. Zu diesem Zeitpunkt trägt der Film noch den Namen Kill Hitler (Tarantino sendet Liebesgrüße aus Amerika) und basiert nicht nur auf Klimows Erinnerungen, sondern auch auf denen von Autor Ales Adamovich, der 1972 in dem Buch Die Erzählung von Chatyn über seine Jugend bei den russischen Partisanen schreibt. Und Goskino hat zwar nicht all die versteckten Schmähungen des Regisseurs (oder seiner jüngst verblichenen Frau) vergessen, aber man muss auch mal Tatsachen in die Augen sehen: Agonie hat sowohl bei Kritik als bei Publikum mehr Zuspruch gefunden als erwartet und offenbart ein ganz eindeutiges Talent für epische Inszenierung, das man gerade gut gebrauchen könnte. Hinzukommend sind zahlreiche, von Goskino sehr gern abgesegnete Kriegsfilme mit pathetischem Heldenmär-Ansatz in letzter Zeit ziemlich gefloppt. Also bekommt Klimow endlich das OK zum Dreh – nur den Titel möge er bitte noch überdenken.

Mit Komm und sieh bewegt man sich auf dem soliden Grunde des Johannesevangeliums. Ansehen soll man sich in diesem Sinne die vier apokalyptischen Reiter, die das nahende Ende der Welt und die Hölle verkünden. Unser Protagonist, Fljora (Alexei Krawtschenko), ahnt von einer Hölle noch nichts. Wir treffen ihn mit einem Spielkameraden in der weißrussischen Ödnis, während sie versuchen, Krieg zu spielen. Sie streiten sich um ein Gewehr, Überbleibsel eines richtigen Gefechts, und werden dafür von einem älteren Mann zusammengestaucht. Er ist weiser und weiß um den infernalen Sog von Waffen. Kurz darauf stehen Partisanen bei Fljora im Haus. Mit kaum 14 Jahren brennt er darauf, sich ihnen anzuschließen. Sein Vater ist bereits an der Front; Seine Mutter fleht ihn an, sie und die jüngeren Schwestern nicht zu verlassen. Medienwissenschaftler Knut Hickethier attestierte Komm und Sieh 1987 eine Verkehrung des Bildungsroman-Konzepts, und nirgendwo zeigt sich das deutlicher als in Fljoras fehlgeleitetem Enthusiasmus. Er wähnt sich am Beginn seiner Reise ins Ungewisse, an deren Ende er ein starker, schlauer und ruhmreicher Held ist. Er wird den ganzen Film über nichts Heldenhaftes tun.

Fljora (r.) wird schnell mit bitteren Realitäten konfrontiert

Die erste Enttäuschung erwartet ihn im wäldlichen Versteck der Partisanen: Dort nimmt ihn niemand wirklich für voll, und als die Deutschen sich zum ersten Mal bemerkbar machen, lassen sie ihn prompt zurück. Der Kommandeur Kosach (Liubomiras Laucevičius) gibt den Befehl, Fljora im Lager zu lassen und dessen vergleichsweise neuen Stiefel einem anderen Soldaten zu geben. Im Kopf des Jungen ist das eine Schmähung, wir vermuten hinter Kosachs steinerner Miene aber eher Mitleid und Schutzinstinkt. Gleiches gilt für seine Geliebte Glascha (Olga Mironowa), die kaum älter als Fljora ist, sich aber deutlich erwachsener wähnt und ebenso geknickt ist, vergessen worden zu sein. Für kurze Zeit macht das die Beiden zu Leidensgenossen und Weggefährten, aber einen Großteil der folgenden Odyssee muss Fljora alleine bewältigen.

Über die sonstige Handlung des Films soll ein Mantel des Schweigens gelegt sein, denn Komm und sieh ist einer dieser Filme, von denen man wünscht, man könnte sie mit neuen Augen wieder zum ersten Mal sehen, auch wenn man nicht wirklich hinsehen will. So viel Brutalität und alptraumhafte Bildsprache noch vor einem liegt, um so mehr besticht Fljoras Geschichte bis hierher durch unkomfortable Andeutungen und durch die Schönheit der Szenerie. Das frühere Weißrussland war und ist ein schönes Fleckchen Erde. Klimov weiß, die prachtvollen Wälder in Szene zu setzen, bevor er Sumpflandschaften und karge Felder als Schauplatz des Schrecklichen offeriert. Und bereits von Beginn an werden wir eingenommen von einem Film, der sich selbst einen fast dokumentarischen Stil auf die Fahne geschrieben hat, aber mehr als gelegentlich ins traumhaft-surreale driftet. Wie sonst lässt es sich erklären, dass wir später einen monströsen Nazi-General treffen, der ein exotisches Äffchen als Haustier hat? Woher sonst kommt plötzlich Mozart, als Glascha nahezu feenhaft im Wald von Sonnenlicht umspielt wird? Teile des Publikums vermuten seit jeher, dass diese bizarren, fremdartigen Elemente Fljoras kindlicher, mit dem Wahnsinn hadernder Psyche entspringen. Und ob man dieser Interpretation folgen will oder nicht: Die singulär akkurate Darstellung des psychischen Verfalls macht Komm und sieh als Kriegsfilm so effektiv wie schockierend.

So schrecklich der Film auch sein kann, er bietet gelegentlich unumwundene Schönheit, hier in Form von Glascha im Regen

Im Sumpf des Traumas

Der legendäre amerikanische Komiker George Carlin war ein großer Fan von Wortklauberei – in vielen seiner Programme zerlegte er Beweise menschlicher Dummheit sprachlich. So auch in Parental Advisory: Explicit Lyrics von 1990, wo er ‚soft language‘ anprangert, eine Art von Sprache, die die Leute vor einer grausamen Realität schützen soll. Sein Beispiel? Posttraumatische Belastungsstörung, im Englischen kurz PTSD. In Carlins Jugend bezeichnete man Kriegsveteranen, die unter den Folgen ihrer traumatischen Erfahrungen litten, als „shell-shocked“. Das klingt nicht ganz so harmlos wie PTSD, und wäre der Begriff noch gängig, so Carlin, wäre man in der gesundheitlichen Versorgung von Veteranen wahrscheinlich nicht so nachlässig.

Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich der Fall wäre. Mal abgesehen davon, dass die Umbenennung vermutlich einen pragmatischen Grund hat: Traumata gibt es nicht nur im Krieg. Und wie mir der Arzt, der vor Jahren PTSD bei mir diagnostizierte, recht trocken mitteilte: Man muss nicht im Krieg gewesen sein, um sich diese Krankheit zu holen. Aber irgendwo ist doch eine Kernwahrheit in Carlins Aussagen, denn in einer Ära, in der ‚Trigger Warnings‘ als definitives Zeichen von Verweichlichung angesehen werden, fühle ich immer eine gewisse Scham, wenn ich jemandem erzähle, dass ich auf ebendiese angewiesen bin. Immer die Erinnerung an Furchtbares im Nacken zu haben ist Eines; Die Erfahrung ständig negiert bekommen ist nochmal ein anderes Biest.

In Komm und sieh gibt es eine recht ikonische Szene, in der Fljora und Glascha durch einen dichten Sumpf waten. Beide scheinen jeden Moment zu ertrinken. Hauptdarsteller Krawtschenko erinnert sich in einem Interview, dass der Morast tatsächlich sehr tief und überraschend dicht und besiedelt von Parasiten war, und jedes einzelne dieser Details kann man beim Schauen beinahe spüren. Der Sumpf ist eine nahezu perfekte Metapher für die Grausamkeit von Trauma: Man ertrinkt und spürt dies mit aller Panik und Verzweiflung, aber es ist so, als könne niemand sonst diesen Sumpf sehen. Es ist schwer, in Worte zu fassen, wie der Sumpf, in dem man gerade ertrinkt, überhaupt aussieht. Und weil alle um einen herum den Sumpf nicht sehen und die Beschreibung des Sumpfes sogar als schwachsinnig empfinden können, steckt man da wohl oder übel alleine drin. Ein Trauma bindet sich oftmals an die seltsamsten kleinen Details, und vielleicht rühren daher das Äffchen und Glaschas Tanz im Wald. Elem Klimov zeigt uns Fljoras Sumpf, und er zeigt uns alles davor und danach. Der Junge selbst kann im Film anderen kaum begreiflich machen, wie er gerade durchlebt, was er durchlebt. Es ist ein graduelles Sterben der Sprache, weil es für Fljoras Trauma kein Vokabular geben kann.

Tückische Falle mit metaphorischer Kraft: Fljora im Kampf mit Schlamm und Schock

Eine andere Facette dieser Traumabewältigung findet sich in der Tendenz des Films, die Gesichter seines Personals in Nahaufname und mit geradem Blick in die Kamera zu zeigen. Dadurch wird der Fokus auf das Individuum im Krieg zurückgebracht, wo anderswo das Individuum als bloßes Werkzeug dient, um durch den Krieg zu begleiten. Jüngst wurde diese Technik im deutschen Oscar-Anwärter Im Westen nichts Neues (2022) referenziert, wenn auch lang nicht so effektiv. Warum? Paul Bäumers Gesicht trägt bereits nach dem ersten Ausflug in die französischen Gräben die Marker des Traumas, und dieses Bild wird im Verlauf des Films nicht mehr wirklich gesteigert, egal, welchen Unmenschlichkeiten er begegnet. Aber Trauma summiert sich und frisst sich durch das Sein. In Komm und sieh sehen wir primär Fljora beim Zerfallen zu. Alexei Krawtschenko spielt diesen Verfall, als ob es um sein eigenes Leben ginge, und er wird von Klimow recht unerbittert auf diese Rolle vorbereitet.

Krawtschenko selbst hat nie schauspielern wollen; Als im Radio nach blonden, blauäugigen Jungen für die Rolle gesucht wird, begleitet er lediglich einen Freund zum Casting und wird unerwartet selbst entdeckt. Daraufhin zeigt Klimow ihm erst einmal zwei Stunden grausame Kriegs- und Holocaustaufnahmen (das nachher angebotene Stück Kuchen schlägt Krawtschenko aus). Bereits bei Agonie arbeitet Klimow mit Hypnotiseuren, die nun ans Set beordert werden, um dem jungen Hauptdarsteller bleibende Schäden zu ersparen. Er zeigt sich nicht anfällig für Hypnose. Über die neun Monate Drehzeit ist er größtenteils ohne elterliche Aufsicht. Mittels einer Crash-Diät nimmt der 14-Jährige rapide für die Rolle ab. Entgegen populärer Gerüchte ergraut sein Haar gen Drehende nicht wirklich, aber die mit richtigem Silber vermischte Paste bleibt noch lange nach der letzten Klappe im Haar kleben. Später äußert Klimow Ereichterung, dass Krawtschenko nicht absolut wahnsinnig, aber zumindest Schauspieler geworden ist.

Voller Einsatz am Set: Klimow verlangt von Mensch und Tier Höchstleistungen

Diese Unerbittlichkeit zieht sich wohl oder übel durch den ganzen Dreh. Man borgt sich von der Armee richtige Kriegsmaschinerie aus, damit die Zuschauer:innen bei den Geräuschen nicht an Spielzeuge denken. Sowieso setzt das ganze Sounddesign auf eine möglichst realitätsgetreue, hautnahe Inszenierung, weshalb tatsächliche Munition über den Köpfen der Darsteller:innen abgefeuert wird. Ich möchte mich an dieser Stelle nicht zu lange in einem Diskurs über die Moralität dieser Regieentscheidungen zergehen. Nur so viel: Es ist fast 30 Jahre her, dass Schauspieler Brandon Lee am Set von The Crow von einer fälschlich geladenen Waffe getötet wurde. Lee gab eine wundervolle Performance in diesem Film und in einer besseren Welt würde man sich eher an diese Performance als an seinen Tod erinnern. In einer besseren Welt wäre Lee heute 57. Ich kann Klimows Bedürfnis, das Grauen des Krieges möglichst unverfälscht und greifbar zu inszenieren, nachvollziehen. Aber ich denke auch, dass kein filmisches Meisterwerk die möglichen Folgen einer geladenen Waffe oder in sich traumatischer Erfahrungen am Set wert ist.

Nichtsdestotrotz: Der Film ist ein Meisterwerk, weil er Trauma versteht. Wenn heute davon gesprochen wird, was für ein großartiger Kriegsfilm Komm und sieh ist, dann vermutlich in erster Linie deshalb, weil er nicht nur schonungslos dekonstruiert, wozu Krieg manche Menschen treibt, sondern auch, wie er viele weitere zurücklässt. Gegen Ende des Films steht Fljora nicht weit von seinem Heimatdorf entfernt, und doch ist alles anders geworden. Detlev Kannapin schreibt in Film und Krieg: Die Inszenierung von Politik zwischen Apologetik und Apokalypse: „Die ihm vertraute Umwelt erscheint als eine Geisterwelt. Nie wieder wird er hier unbeschwert leben können.“. Hierin liegt keine Apotheose. Was Fljora erlebt, lässt sich nicht apotheosieren.

"Für alle großen Eroberer der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft."

It's the end of the world, and I feel fine?

Nach Komm und sieh macht Elem Klimow nie wieder einen Film; später wird er dazu äußern, dass er alles gesagt habe, was er je hätte sagen können. Gerüchteweise arbeitet er kurzzeitig an anderen Projekten, unter anderem an einer Verfilmung von Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow, an der auch viele andere (zum Beispiel Roman Polanski)  knabbern. Manche munkeln, Klimow verliere sich über den bleibenden Kummer nach Schepitkos Tod an den Alkohol. Womöglich ist er auch gut damit beschäftigt, alleinerziehender Vater zu sein. Er erlebt noch die überbordend positive Resonanz, die sein  Schwanengesang Komm und sieh erhält, bevor er 2003 verstirbt. Ein langes, schweres, einzigartiges Leben liegt hinter ihm.

Sollte mein Apell noch nicht klar geworden sein: Kommt und seht euch diesen Film an. Besonders, wenn ihr das Privileg genießt, ihn zum ersten Mal zu sehen. Klimow dreht den Film seiner Zeit nicht nur, um seine Vergangenheit zu verarbeiten, sondern auch im hässlichen Angesicht des Kalten Krieges. Jetzt haben wir 2022. Komm und sieh ist 37 Jahre alt. Erneut ist Krieg, weil wir Menschen anscheinend nie aufhören, Apotheosen zu stricken. Vor zwei Tagen landen im Zuge des Konfliktes zwischen Russland und der Ukraine Raketen im unbeteiligten Polen. Die Welt ist gerade kein besonders schöner Ort und ich kann verstehen, wenn man nicht damit konfrontiert werden will, wie unschön genau.

Komm und sieh erinnert mich immer sehr zielgenau daran, was Menschen sich antun können. Weshalb ich mir den Film maximal zwei Mal im Jahr anschauen kann und doch immer wieder muss. Noch viel öfter aber denke ich dieser Tage an einen Russen und eine Ukrainerin, die vor fast 60 Jahren den Mut hatten, sich ineinander zu verlieben und ein Leben zu teilen. Sie hinterlassen uns auf sehr pragmatischer Ebene Anton Klimow, der ihr Andenken ehrt und inzwischen als Journalist für eine staatskritische Website tätig ist. Auch ihre Filme haben sie uns geschenkt. Vor allem erinnert mich die Geschichte von Elem Klimow und Larisa Schepitko daran, dass Menschen wunderbar zueinander sein können. Man bekommt fast den Eindruck, dass das Weitermachen lohnt.