Ein Jahr geht zu Ende, wie wir es in der Form noch nicht erlebt haben. Vieles war 2020 anders: Seit Jahren waren wir nicht so selten im Kino und auch bei uns im KiK gab es seit der Neueröffnung im Mai 2014 nie so lange keine Vorführung, wie dieses Jahr. Am 9. März flimmerte bei uns mit The Hunting Ground zum bislang letzten Mal ein Film über die Leinwand. Während wir darauf warten, dass dieses Jahr endlich zu Ende geht, in der Erwartung eines besseren Jahres 2021, haben wir noch einmal zurückgeblickt auf die Filme, die wir in den letzten 12 Monaten gesehen haben. Denn trotz der Lockdowns und der damit verbundenen Kinoschließungen und Startterminverschiebungen hatte das Kinojahr 2020 ein paar echte Filmperlen zu bieten. Im Folgenden stellen vier unserer Autoren ihre Lieblingsfilme des Jahres vor. Viel Spaß und Film ab!

© Sony Pictures, Universal Pictures, Disney

Little Women (Lukas)

Dass ich als meinen Lieblingsfilm des Jahres einen Film gewählt habe, der bereits im Januar erschienen ist, soll nicht etwa heißen, dass (wie oft fälschlich angenommen) während der Corona-Zeit keine guten Filme erschienen sind. Schließlich hat Netflix mit Filmen, wie I'm Thinking of Ending Things, Mank und The Trial of the Chicago 7 ordentlich abgeliefert und auch im Kino liefen vor dem erneuten Lockdown einige hervorragende Filme, wie z.B. Vergiftete Wahrheit oder Ema. Dass sich Filme mit Kinostart im Winter in meinen Jahresranglisten oft weit oben finden, hängt vor allem mit der Oscar-Saison zusammen. Filme, die sich für den bekanntesten Filmpreis der Welt bewerben wollen, müssen in den USA vor Jahresende erschienen sein, was bedeutet, dass sie hierzulande meist zwischen Januar und März ihren Weg auf deutsche Leinwände finden. So auch das Historiendrama Little Women, welches für sechs Oscars, u.a. als Bester Film, nominiert war. Auch wenn der Film leider nur für seine Kostüme gewann und die Regisseurin Greta Gerwig zu Unrecht gar nicht nominiert wurde, war der Film ein enormer Erfolg, sowohl bei Kritikern, als auch an den Kinokassen. Auch mich hat der Film kalt erwischt. Nicht nur, dass der Film immer noch mit Abstand mein Lieblingsfilm des Jahres ist, nachdem ich ihn wenige Wochen später ein zweites Mal gesehen hatte, stand für mich fest, dass Little Women für mich sogar einer der Top-10-Filme der letzten Dekade ist!

Wie kann es denn sein, dass die zigste Verfilmung eines amerikanischen Jugendbuchklassikers (zu dem ich nicht den geringsten Anknüpfungspunkt habe) über vier Schwestern, die im Bürgerkriegs-Amerika aufwachsen, mich so umgehauen hat? Das lässt sich wohl am ehesten auf das immense Talent vor und hinter der Kamera zurückführen. Regie und Drehbuch stammen, wie bereits erwähnt, von Greta Gerwig, welche mich bereits zwei Jahre zuvor mit ihrem Regiedebüt Lady Bird begeistert hatte und auch als Schauspielerin jeden Film bereichert, indem sie zu sehen ist. Hier kann ich nur jedem den vorzüglichen Frances Ha ans Herz legen, an dessen Drehbuch sie auch beteiligt war. Größter Kniff des Drehbuchs: Der Film wird, anders als in bisherigen Adaptionen, nicht linear erzählt, sondern in zwei Erzählebenen. Durch die raffinierte Struktur werden Parallelen innerhalb der Erzählung hervorgehoben, dank der unterschiedlichen Farbgestaltung und geschickt eingesetzten Kostümen und Requisiten, verliert man als Zuschauer auch nie die Übersicht, in welcher Zeit man sich gerade befindet.

Natürlich muss erwähnt werden, wie enorm gut der Film besetzt ist. Abgesehen von Saoirse Ronan, Florence Pugh (beide zurecht Oscar-nominiert) und Timothée Chalamet, zweifellos drei der angesagtesten Darsteller*innen ihrer Generation, sind auch die erwachsenen Charaktere mit Laura Dern (eine liebenswertere Filmmutter hat man selten gesehen!), Chris Cooper und Meryl Streep erstklassig gecastet. Im letzten Drittel gibt es eine Szene, die mir dank ihres geschickten Aufbaus und der schauspielerischen Leistungen von Ronan und Dern auch bei der zweiten Sichtung wieder Tränen in die Augen getrieben hat. Und das ganz ohne Sentimentalität oder manipulative Filmmusik. Apropos: Alexandre Desplat hat mit seinem Oscar-nominierten Score wieder vorzügliche Arbeit abgeliefert!

Ich könnte noch lange weiterschreiben, wieso Little Women supertoll ist und würde dem Film dennoch nie gerecht werden können. Nach der Vorführung verließ ich damals im Januar euphorisch den Kinosaal, im Bewusstsein, dass das wohl mein Lieblingsfilm des Jahres 2020 sein wird. Und das ist er geblieben. Ein Film fürs Herz, der kaum besser in die Weihnachtszeit passen könnte. ♥

Offizieller englischsprachiger Trailer zu Little Women © Sony Pictures

Never Rarely Sometimes Always (Philipp)

Wer dieses Jahr ins Kino gehen wollte, der musste nicht nur ständig damit rechnen, dass jenes durch einen erneuten Lockdown geschlossen werden würden, sondern auch immer darum bangen, dass Filme verschoben, oder erst gar keinen Starttermin bekamen. Nichtsdestotrotz war 2020 mit Abstand das intensivste und vielfältigste Kinojahr, dass ich je hatte. Zu meinen absoluten Favoriten zählt definitiv Waves von Trey Edward Shults, der in mir ein Wechselbad der Gefühl auslöste, welches sich wie eine Kombination aus Good Time (John & Benny Safdie), Marriage Story (Noah Baumbach) mitsamt einer Prise Still Walking (Hirokazu Kore-eda) anfühlte. Doch darum soll es mir heute nicht gehen, denn Olli wird sich diesem wunderbaren Film ausführlicher widmen.

Stattdessen möchte ich über einen weiteren Favoriten sprechen, der nicht minder bemerkenswert daherkommt, mir jedoch jedes Mal einen Knoten in die Zunge macht. Never Rarely Sometimes Always der US-amerikanischen Regisseurin Eliza Hittman erzählt die Geschichte der siebzehnjährigen Autumn (Sidney Flanigan), die nach einer unverhofften Schwangerschaft abtreiben möchte. Doch weder lässt das Gesetz im Bundesstaat Pennsylvania ein solches Vorhaben für Minderjährige zu, noch kann sie mit der Unterstützung ihrer Eltern rechnen. Zusammen mit ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder) kratzt sie die letzten Dollar zusammen und begibt sich nach New York City, um dort in einer der zahlreichen Kliniken, in denen auf Wunsch der Schwangeren abgetrieben werden kann, Hilfe zu suchen. Dabei spiegeln die Bilder der Kamerafrau Hélène Louvart (Beach Rats, Lazzaro felice) die abweisend-kalt wirkende Umgebung, der Autumn ausgesetzt ist, eindrucksvoll wider. Der Zuschauende wirkt wie ein/e Beobachter*in, distanziert, starr und verfolgt stumm das Geschehen. Nur manchmal bricht die eiserne Maske der Protagonistin und die dahinter verborgenen Emotionen kommen zum Vorschein. So auch in der titelgebenden Szene des Films, bei welcher eine medizinische Beraterin Autumn persönliche Fragen stellt, welche sie mit „Niemals, Selten, Manchmal [oder] Immer“ beantworten muss. Themen des nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs oder die immer noch patriarchale Vorherrschaft westlicher Gesellschaften werden dabei augenscheinlich subtil angeschnitten, sind aber zu jedem Zeitpunkt im Film spürbar.

Auch schauspielerisch überzeugt der Film auf ganzer Linie – dabei möchte man gar nicht glauben, dass dies Flanigans Schauspieldebüt ist! Ebenso beeindruckend ist die Beziehung zwischen Autumn und Skylar, die durch eine Chemie geprägt ist, bei der von vornherein ein so starkes Grundvertrauen besteht, dass es keinerlei Worte mehr Bedarf. Ein Blick, eine Körperhaltung, eine Berührung reichen aus, um zu wissen was der andere braucht. Ein Band, welches keine äußere Kraft aufzubrechen vermag. Subtil fügt sich dabei der Score von Julia Holter in die Geschichte ein und komplementiert somit den Film. Bei Never Rarely Sometimes Always sind es die leisen Zwischentöne, auf die man achten muss, die jedoch mit solch einer immensen Stärke transportiert werden, dass diese noch lange in mir nachhallen werden.

Trailer von Never Rarely Sometimes Always © Focus Features

Waves (Olli)

Mein klarer Film des Jahres ist der emotionale Wellenritt Waves vom US-Regisseur Trey Edward Shults. Er zeigt die sozialen Spannungen der Familie Williams. Obwohl sie durch die Bauunternehmerverdienste des Vaters Ronald (Sterling K. Brown) bereits der oberen Mittelschicht angehört, bedarf es der schwarzen Familie immer noch gesellschaftlicher Anerkennung. Dadurch getrieben, will Ronald auch seinen beiden Kindern Tyler (Kelvin Harrison Jr.) und Emily (Taylor Russell) zum Erfolg in der Highschool und im späteren Leben verhelfen, in dem er insbesondere seinen Sohn beim Ringsport hart mit zusätzlichen Heimtrainingseinheiten fordert. Komplettiert wird die vierköpfige Familie durch die einfühlsame Stiefmutter Catharine, gespielt von Renée Elise Goldsberry, welche durch die Rolle der Angelica Schuyler im Broadway-Musical Hamilton bekannt wurde. Überschattet wird der familiäre Zusammenhalt davon, dass Tyler seinem Körper über das Limit hinaus belastet und ihm deswegen eine Verletzung droht, die sein Karriereende bedeuten könnte. Ein weiterer Konflikt, der an dieser Stelle aus Spoilergründen unerwähnt bleibt, rückt Emilys Sicht in den Fokus der zweiten Filmhälfte.

Optisch ist der Film eine Wucht. Gerade am Anfang des Films gibt es eine Reihe von langen One-Shot Sequenzen, bei der die Kamera spielend die Protagonisten verfolgt, an denen man merken kann, dass Shults beim großen Terrence Malick in die Lehre gegangen ist. Besonders hervorzuheben ist eine Anfangsszene im Innenraum eines fahrenden Autos, in welcher sich die Kamera um 720° um die eigene Achse dreht und ein floridianisches Brückenpanorama einfängt und damit Gefühle jugendlicher Freiheit erzeugt. Regisseur Shults spielt regelrecht mit den Seitenverhältnissen des Films, um das Innenleben der Charaktere widerzuspiegeln. Hinzu kommt der Score von Trent Reznor & Atticus Ross, welcher durch Klänge von unter anderem Frank Ocean, Animal Collective und Tame Impala ergänzt wird.

Ein Glück, dass es mir möglich war, diese immense Bildgewalt im Corona-Sommer im Kino genießen zu dürfen. Nachdem ich mich im Zuge der Proteste infolge des Todes von George Floyd und "Black Lives Matter" intensiver mit den Problemstellungen der afroamerikanischen Bevölkerung beschäftigt habe, konnte ich einige subtilere Szenen besser verstehen. Generell ist das tolle an dem Film, dass trotz seines schwarzen Casts, nicht wie üblich das Thema Rassismus im Vordergrund steht, sondern der familiären Zusammenhalt. Was es mir zudem angetan hat, war die Darstellung des Wrestlingsports, statt des sonst üblichen Football oder Basketball, welches man im Highschool-Setting oft sieht.
Ein wirklich gelungenes Indie-Meisterwerk. Es bleibt spannend, was der junge Regisseur Trey Edward Shults in Zukunft noch erreichen wird.

Offizieller englischsprachiger Trailer von Waves © A24

MULAN, oder: Meine unendlich lange Abstinenz (Martin)

Was für ein Jahr!

Natürlich hat jetzt keiner erwartet, dass ich diesen Film hier wirklich bespreche, den ich überdies auch gar nicht gesehen habe. Aber welcher Titel brächte denn das für uns alle kuriose Kino-Jahr 2020 besser auf den Punkt, als Disneys bahnbrechende Erkenntnis, der gute alte Zeichentrick sei nur ein maues Übergangsstadium zur bombastisch aufgedrehten Realverfilmung. Und das ganze dann gleich noch am Kino vorbei nur im hauseigenen Additionshauptquartier Disney+ zum Besten zu geben, komplettiert die schweren Schläge in die cineastische Magengrube.

Aber wie Wissenschaftler uns vor einer Pandemie warnten, habe auch ich lang' schon ähnliche Warnungen vernehmen können: der vermeintliche Drachenfilmtrailer kam ja in der Sneak – immer wieder. Dann habe ich stets gähnend zu Olli gesagt: „Guck, das ist ja die Keiko aus Star Trek!“, oder Olli drehte sich zu mir und sagte: „Guck mal, das ist die Keiko aus Star Trek“. Damit war dann auch schon der Schaumgenuss des ganzen Films ordentlich abgeschöpft, da musste zumindest ich nicht mehr Streaming-mäßig hinlangen.

So war dann auch das ganze Jahr für mich ziemlich unerquicklich was Neuerscheinungen angeht. Das liegt aber auch ein bisschen an meiner Verbohrtheit: auf mich gestellt und von der großen Leinwand abgeschnitten, zieht es mich immer ins Klassiker-Land. Das verheißungsvolle Kürzel „s/w“ ist mein Sputnik! Würde mich bspw. Lukas in Lackuniform mit einer Nazi-Maschinenpistole bedrohen und fragen: „Na, wo ist die Bundeslade? Ach, und was war der beste Film dieses Jahr für Dich?“, müsste ich gezwungen sagen „Weiß ich nicht und Mank."

Mank war aber auch nichts Olymp-würdiges, trotz seiner sympathischen-hübschen damalsianischen Schwelgerei. Und so bleibt mir nur die Sehnsucht nach der großen Leinwand, nach unserer großen Leinwand vor allem! Das KiK so lange im Dornröschenschlaf, zum reinen Ort universitärer Lehrer reduziert zu sehen, der Beamer missbraucht zum reinen Powerpointprojizieren - es ist hart, bei aller Einsicht. Aber man darf den Kopf nicht hängen lassen!

Wer sich mit Klassikern - modernen wie alten - eindecken möchte, dem sei‘ die Phase IV wie stets empfohlen. Die Jungs_Mädchen haben für Großbestellungen jetzt sogar einen Fahrradservice, der zu orgiastischen Beifallsstürmen von unseren lieben tuuwis führen würde. Die Streaming-Plattform MUBI versorgt weiterhin ebenso zuverlässig alle, die den Silberglanz physischer Datenträger verabscheuen. Und meine neueste Liaison gilt den Zweitereihefilmen, die uns ein gewisser NWR restauriert hat. Die gibt es kostenlos hier zu sehen.

Wichtig ist es also, optimistisch zu bleiben. Niemand muss in die Hände klatschen und rufen: ab morgen trage ich nur noch kurze Hosen und schließe mich der Reichsbürgerbewegung an! Auch hat Bill Gates lediglich Windows zu verantworten, nicht unseren momentan grassierenden chinesischen Biographie-Auflockerer. Ja, bald, sehr bald, ich glaube es ganz fest, werden wir mit schwulstigen Impfnarben wieder die Kinos betreten und alles Feine, Kleine und Große, der Kinowelt wieder mit Stauneblick im Samtsessel genießen können, vertraut mir!

Und wer jetzt immer noch meckert: immerhin bleibt uns das hier erspart!

Tschüssidanke
Martin