Schon seit Anbeginn des Films greifen Filmschaffende auf Literaturvorlagen zurück und bedienen dabei ein Genre, das sich bis heute großer Beliebtheit erfreut. Auch das deutsche Kino bleibt von dieser Euphorie nicht verschont. Bereits im letzten Jahr tastete sich Burhan Qurbani mit seiner dreistündigen Inszenierung von Berlin Alexanderplatz an die Vorlage Alfred Döblins heran und auch gegenwärtig ist der Stoff des altbekannten Autors Erich Kästner mit Fabian oder Der Gang vor die Hunde in den Kinos zu sehen. Mit dem Werk Schachnovelle des Autors Stefan Zweig findet abermals ein Literat von Welt den Weg auf die Leinwand und entführt dabei in die Abgründe der menschlichen Psyche.

Aus dem Hintergrund erklingt das leise Flüstern einer Stimme, die eine wirre Anzahl von Buchstaben und Zahlen vor sich her murmelt. Langsam senkt sich die Kamera auf ein schwarz-weiß kariertes Brett, darauf Figuren, die durch ein umherkreisendes Licht lange Schatten werfen. Drohend hebt sich die Musik und in der Dunkelheit erscheint eine Glühlampe, die in unregelmäßigen Abständen aufflackert und beinahe zu zerspringen droht. Es ist der 12. März 1938 in Österreich. Es herrscht Aufruhr in den Straßen Wiens, denn Wehrmachtstruppen marschieren in das Land. Das letzte Ultimatum an Österreich ist gestellt und nur noch wenige Stunden trennen vor der Besetzung der Regierung und damit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Doch der österreichische Anwalt Dr. Josef Bartok (Oliver Masucci) und dessen Frau Anna (Birgit Minichmayr), noch in freudiger Feierlaune und spottend über das Vorhaben der Nazis, sind sich der heranbrausenden Gefahr nicht bewusst. Doch dann geschieht alles Schlag auf Schlag und Josef wird von der geheimen Staatspolizei in Gefangenschaft genommen. Als Gestapoleitstelle dient das gutbürgerliche Hotel Metropol, das mit seinem antiken Prunk eher einem Palast als einem Gefängnis gleicht. Doch Josef ist kein gewöhnlicher Gefangener! Verantwortlich für die millionenschweren Vermögen alteingesessener österreichischer Aristokraten besitzt er als einziger deren Kontonummern und damit den Zugang zu einem Schatz, welchen sich die Nationalsozialisten nur allzu gerne unter den Nagel reißen wollen. Doch die luxuriöse Maske, die im Jargon der Nazis 'Sonderbehandlung' genannt wird, entpuppt sich schon bald als eine ausgeklügelte Zermürbungsmethode, die Josef so langsam in den Wahnsinn treibt. Anfangs lässt nur der Ausblick auf die grauen Wände des Hinterhofs von seiner als Hotelzimmer getarnten Zelle einen Hauch von Freiheit erahnen.

Doch was passiert wenn einem jegliche Möglichkeit der geistigen Betätigung entzogen wird, Raum und Zeit sich verlieren und der Anblick einer Zigarette zur unerträglichen Qual wird, wenn man kein Feuer besitzt? Genauso wie Josef Bartok würde man wahnsinnig werden und in einen Strudel des langsamen, aber unaufhaltbaren Zerfalls der eigenen Psyche geraten. Durch Zufall gelangt Josef Bartok jedoch in den Besitz eines Schachbuches und klammert sich damit an einen Grashalm, der als geistige Oase gedacht, ihn aber nur noch tiefer in die Abgründe seiner eigenen Psyche zieht. Schritt für Schritt verändert sich nicht nur sein Geist, sondern im gleichen Zuge auch die Räumlichkeiten in denen er sich befindet. Das Hotelzimmer verwandelt sich schon bald in eine Höhle und der innere und äußere Zustand des Protagonisten verschmelzen miteinander. Gefangen zwischen Schachzügen und Verhören mit dem Gestapo-Chef (Albrecht Schuch) driftet Bartok immer weiter ab. Als Bartok nach dem Krieg auf ein Schiff, Richtung Buenos Aires, steigt und dort abermals mit den Geistern seiner Vergangenheit konfrontiert wird, beginnen Gestern und Heute, Realität und Erinnerung miteinander zu verschwimmen.

"Ein ganzes Jahr und sie hauen ab, ohne das Hotelzimmer verlassen zu haben." © Studiocanal

Oliver Masucci, vor allem bekannt aus der Erfolgsserie Dark, läuft in seiner Rolle als Josef Bartok zur Höchstleistungen auf und lässt die Schizophrenie, den Wahnsinn und langsamen Realitätsverlust seines Charakters zu jeder Sekunde glaubhaft erscheinen. Nicht unerwähnt sollte an dieser Stelle der ebenso brillante Albrecht Schuch bleiben, der die Rolle des latent-grausamen Gestapochefs Franz-Josef Böhm verkörpert. Wirft man einen Blick in die Filmographie des jungen Schauspielers, könnte man schon fast glauben, dass das deutsche Kino einen neuen Lieblingsdarsteller in Sachen literarischer Figuren gefunden hat - Berlin Alexanderplatz, Fabian oder Der Gang vor die Hunde und jetzt Schachnovelle. Ironischerweise spielt Schuch in Lieber Thomas bald selbst einen Autor; das kann kein Zufall sein! Dass der deutsche Film vor allem mit der Inszenierung von historischen Räumlichkeiten vertraut ist, ist umfänglich bekannt. Dieser Trumpf wird auch in Schachnovelle ausgespielt. Zwar wird hier und da das digital projizierte Meer sichtbar, doch das lässt sich verkraften.

"Ich weiß nicht mehr, wer ich mal war." © Studiocanal

Doch kann es der Film auch mit seiner literarischen Vorlage aufnehmen? Ja und Nein. Der dramaturgische Schritt, die Handlung, nicht wie in der Vorlage, durch einen passiven Charakter erzählen zu lassen, sondern direkt durch Josef Bartok selbst, ist ein richtiger, wenn nicht sogar der einzig sinnvolle gewesen. Wer sich vom Film ein Schachgemetzel á la The Queen's Gambit erhofft der wird an dieser Stelle jedoch enttäuscht, da das namensgebende Spiel leider nur sehr sparsam eingesetzt wird. Zudem schafft es der Film oftmals nicht die geniale Erzählweise Zweigs einzufangen, weswegen dieser an vielen Stellen nur das Oberflächliche wiederzugeben, jedoch nicht den Kern der Erzählung zu erfassen vermag.

Die Schachnovelle, geschrieben zwischen 1938 und 1941 während Zweigs Exilaufenthalts in Buenos Aires, Argentinien, wurde erst nach seinem Suizid 1941 veröffentlich. Warum Zweig sich das Leben nahm, lässt sich an dem unten aufgeführten Abschiedsbrief deutlich erkennen.

Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet.
Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschliessen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen.

Zweig hatte den Glauben an die Welt und eine vernünftige Menschheit verloren. Zwei Weltkriege erlebte er mit, verfolgt durch die Nationalsozialisten verlor er nun auch noch seine Heimat. All diese Erfahrungen spiegeln sich auch in der Schachnovelle wieder und machen somit das Werk zu einem wichtigen autobiografischen Teil Zweigs. Leider fängt der Film keinen dieser Zwischentöne ein und verschenkt damit viel Potenzial über eine solide Literaturverfilmung hinauszuwachsen. Betrachtet man den Film jedoch als eigenständiges Kunstwerk und trennt es stärker von seiner Vorlage, lässt sich durchaus das Urteil eines überdurchschnittlich guten deutschen Films fällen. Liebhaber Zweigs werden aber wohl eher enttäuscht zurückbleiben.

Der Film startet am 23. September 2021 in den deutschen Kinos.