Die einzige Watchlist, die ihr Ende dieses Jahres braucht! Die Filmtipps unserer Redaktion sind so heiß, dass euch eure Heizkostenabrechnung mal nicht Tränen in die Augen treibt.
2022, all unsere Schleudertraumata tragen deinen Namen. Und während Politik und Pandemie uns nach wie vor umgetrieben haben, hat der Filmbetrieb wieder angeheizt - sowohl global als auch in unserer bescheidenen Lichtspielstätte. Bei all den Neuerungen und Innovationen ist es nahezu magisch, dass wir trotzdem Zeit gefunden haben, die Kinolandschaft zu sichten und für euch die Spreu vom Weizen oder die Pokémon vom hohen Gras zu trennen. Ein Dankeschön ist nicht nötig, wir machen das gerne. ...und hatten auch ehrlich gesagt nicht viel Anderes zu tun. Denn wer einmal unseren heiligen Hörsaal betreten hat, der wird in uns tageslichtscheue Gestalten erkannt haben, deren einzig wahre Erfüllung in einem Kinosessel oder dem Vorzugsabo einer Streamingplattform liegt. Also haltet euch an eurem Lieblingsmenschen oder -kissen fest, denn hier kommen die sorglichst kuratierten Gewinner unserer diesjährigen Gunst. Enjoy!
Rheingold (Zoe)
Sagen wir, wie’s ist – ich bin in manchen Belangen eine recht flatterhafte Person, und dieses Jahr gehört mein Herz nicht nur einem, sondern gleich zwei Filmen. Kurz vor Jahresende ließ ich mich von Charlotte Wells Regiedebüt Aftersun richtiggehend verzaubern, deshalb sei es an dieser Stelle nicht unerwähnt. Da ich aber so schnell nicht an einen Therapieplatz komme, um all meine Gefühle gegenüber der Vater-Tochter-Studie in tropisch-türkischem Türkisblau auszudrücken, lege ich diese Bürde lieber in kompetentere Hände und wende mich meiner zweiten großen Kinoliebe 2022 zu, die, und das passiert den Besten unter uns, quasi eine alte Flamme ist, deren Nummer ich schon gelöscht hatte.
Aber Fatih Akin ist wieder hier (in seinem Revier) und spielt all sein Können aus, um mich vergessen zu lassen, wie bitter ich noch vor drei Jahren von Der Goldene Handschuh enttäuscht wurde. Anno 2019 glaubte ich, dass niemand, der die Geschichte um den Serienmörder Fritz Honka als eine so kurz geratene Sozialstudie mit so überviel Geschnetzeltem inszeniert, noch einmal einen ernsthaften Wurf bei mir landen könnte. Aber was soll ich sagen – anscheinend kennt da jemand meine tiefsten Sehnsüchte. Denn seit Jahr und Tag dürstet es mich nach einem guten Film über Deutschrap. Zwanzig Jahre saß ich am Fenster, mit Tränen in den Augenwinkeln, und dachte bei mir „Deutsches 8 Mile, wo bist du?“. Ja, ich muss gestehen, sogar Zeiten ändern dich und die Bushido-Doku auf Amazon Prime mussten zwischendurch herhalten und haben mir nichts gegeben außer der Erkenntnis, dass Männer im Clanmillieu albernere Fehden haben als Ehepaare, die sich in Elterngruppen engagieren.
Aber zurück zu unserem Hauptfokus: Dieses Jahr präsentiert uns Akin mit Rheingold ein Biopic über Xatar (bürgerlich Giwar Hajabi), einen Rapper, Produzenten, Autor und Geschäftsmann (was in der Deutschrapszene meistens Shishabar, Eistee und/oder Halblegalitäten bedeutet). Ich hatte bei meiner Seele noch nie von diesem Mann gehört. Weder sein eigenes Œuvre war mir bekannt, noch der Überfall auf einen Goldtransporter, der kackendreist, relativ opferfrei und deshalb beinahe sympathisch war. Die filmische Umsetzung liefert nicht nur packende Kriegserlebnisse von Xatars Eltern, die als Kurden aus dem Iran fliehen mussten, sondern auch feinste Bonner Plattenbauromantik und eine Verbrechermär à la Trainspotting gemischt mit 4 Blocks.
Ich weiß nicht, ob uns damit ein authentischer Einblick in Xatars wirkliche Vita oder seinen Charakter gegeben wird, und es ist mir auch ziemlich wurscht. Der Mann selbst räumt in seiner Autobiographie ein, dass seine Wahrheit mit der gerichtlichen oder gesellschaftlichen nicht unbedingt d'accord geht (ich habe extra besagtes Halbrealismuswerk gelesen. Es mangelt mir an vielem, aber nicht an dedication). So suggeriert der Film, das im Gefängnis aufgenommene Album Nr.415 sei Xatars Erstes gewesen - tatsächlich war es das seit 2010 indizierte Alles oder nix. Der echte Xatar studierte in London; Film!Xatar drückt lieber in den Niederlanden die Studienbank. Die zuckersüße Romanze mit seiner Jugendliebe Shirin (sehr unterhaltsam aufmüpfig: Sogol Faghani) entspricht, entgegen all meinen Erwartungen, aber tatsächlich einer Form von Wahrheit. Und wenigstens wollte man uns nicht verkaufen, Xatar hätte sich für die Ehe aufgespart - Mit der Nummer wären sie nicht mal bei X-Faktor: Das Unfassbare durchgekommen.
Was der Film uns dafür offeriert sind cringefreier Einsatz von Slang, durch die Bank wunderbare Setups und Payoffs, und sapperlot, sogar Komik auf Plot- und Metaebene! Mit Xatars Protegeé Schwesta Ewa war ich sowohl künstlerisch wie juristisch besser vertraut, und das nahezu schamlose Bashing der Film!-Ewa wurde tatsächlich mit einem Cameo der richtigen Ewa getoppt. Es fühlte sich ein bisschen an wie Weihnachten.
Was Fatih Akin aber immer noch am besten kann: Die interessantesten Talente auf deutschem Boden zu finden und vor seine Kamera zu stellen. Es gelang ihm schon bei Sibel Kekilli und Birol Ünel (schmerzlich vermisst), und wenn man für eines beim Goldenen Handschuh die Lanze brechen kann, dann für den hypnotischen Jonas Dassler. Zugegebenermaßen ist Xatar-Darsteller Emilio Sakraya bei Weitem kein Neuling, zierte er doch in den bereits erwähnten Zeiten ändern dich und 4 Blocks, einigen Bibi & Tina-Filmen und Dramen wie Die Rettung der uns bekannten Welt unsere Bildschirme. Aber selten wurde irgendwo auf seine Schöngesichtigkeit so wenig gegeben. Dafür wird endlich gründlich herauspoliert, wie unglaublich gut dieser junge Mann ist. Sakraya mimt Xatar als einen pfiffigen Kerl mit genug Sensibilität, um Kultur in vielfältigsten Formen zu lieben und mit genug Brutalität, um in einer Welt zu überleben, in der er sich pausenlos beweisen muss. Am Bezeichnendsten ist jedoch der Charme, den er Film!Xatar verleiht. Wenn uns Rheingold eines lehrt, dann ist es, dass gute Homies und besseres Vitamin B noch mehr Gold wert sind als richtiges Gold. Denn mit welchen Dreistigkeiten unser Protagonist durchkommt, nur weil er gewieft und gut connected ist – das ist doch echt inspirierend.
Auch Mona Pirzad glänzt und funkelt als Mama Hajabi, die Sexismus anscheinend innerhalb einer Traumsequenz heilen kann, und Ilyes Raoul verleiht dem jugendlichen Xatar einen wunderbar verpeilten Anstrich. Aber an Emilio Sakraya wird sich von nun an eine ganze Riege an Schauspieltalenten messen lassen müssen. Chapeau, Herr Akin und chapeau, Herr Sakraya. Es war sehr packend, sehr witzig und sehr schön, und mehr brauchte mein Herz zum Wiederauftauen auch nicht.
Everything Everywhere All At Once (Lukas)
Wie jedes Jahr tue ich mich etwas schwer, mich für einen Film des Jahres zu entscheiden. Dieses Jahr umso mehr! Nach zwei Jahren Corona-Flaute ist das Kino wieder "back in Action" mit zahlreichen tollen Filmen. Zwar gab es nicht ganz so viel richtig starke Filme wie 2019 (sowieso eines der besten Kinojahre jüngerer Vergangenheit), aber dennoch gibt es ca. 40 Filme, denen ich dieses Jahr ein Rating von 4 von 5 oder besser geben würde. Jetzt kann man natürlich sagen, dass ich zu gnädig bewerte oder zu viele Filme schaue, aber in meinen Augen spricht das eher für ein wirklich gutes Kinojahr. Und das fing im Januar bereits stark an, mit P.T. Andersons Licorice Pizza, einer wundervollen, komplexen Liebesgeschichte zwischen einem frühreifen Teenager und einer entwicklungsgehemmten Mittzwanzigerin, mit sehr viel stilvollem 70s-Zeitkolorit. Ein weiteres Highlight, Petite Maman der Ausnahmeregisseurin Céline Sciamma, hatte ich bereits im Juni 2021 bei der Berlinale gesehen und hat es auch in diesem Jahr in meine Top 5 geschafft. Was für ein wunderschöner, kleiner Film über Trauer, Mütter und Kindheit, der doch so viel mehr beinhaltet, als man auf den ersten Blick meinen mag. Unbedingte Empfehlung: Der Film ist seit neuestem exklusiv bei MUBI streambar.
Apropos Streaming: Ein weiterer Film, der hier unbedingt empfohlen werden sollte, hat in Deutschland sträflicherweise gar keinen Kinostart erhalten, sondern ist direkt auf Sky erschienen: Das famose Sci-Fi-Drama After Yang, u.a. mit Colin Farrell. Eine Parabel auf Verlust und Abschiednehmen und eine der interessantesten Visualisierungen von Erinnerungen, die ich bislang in einem Film gesehen habe. Und mein liebstes Kinoerlebnis war auf jeden Fall Avatar 2. So ein visuelles Fest habe ich noch nie erlebt und wer auch nur ein Fünkchen Interesse an effektreichem Blockbuster-Spektakel hat, sollte sich den Gang ins Lichtspieltheater nicht entgehen lassen. Natürlich nur in 3D, HFR und auf der größtmöglichen Leinwand!
Doch was ist jetzt mein Film des Jahres? Der eine herausragende Film, an den man sich gern zurückerinnert und der in Zukunft zum Klassiker werden wird? Zwei Kandidaten dafür, TÁR und The Fabelmans, habe ich bereits gesehen (US-Streaming sei Dank), beide laufen hierzulande allerdings erst kommenden März an. Also unbedingt vormerken, die werden auf jeden Fall auch in meiner Bestenliste 2023 auftauchen. Von allen Filmen, die ich dieses Jahr im Kino gesehen habe, gab es jedoch einen, der mich am meisten begeistert hat. Bei welchem ich nicht nur das Gefühl hatte, dass er die Filmwelt auf den Kopf stellt und etwas Neues schafft, sondern auch, dass er genau für mich gemacht wurde: Everything Everywhere All at Once vom Regie-Duo Daniels (Daniel Scheinert und Daniel Kwan).
Und wie soll man diesen Film anders zusammenfassen, als er es bereits selbst über seinen Titel tut? Er gibt einem das Gefühl, jederzeit und an jeder Stelle... alles zu sein. Ein absolut wahnwitziger, synapsenschmelzender, knallbunter Chaos-Trip. Ein wilder Genremix aus Martial-Arts-Komödie, Multiversums-Spektakel und Endzeit-Sci-Fi auf der einen und Familiendrama, Romanze und philosophischem Essay auf der anderen Seite. Der Film handelt von der chinesisch-amerikanischen Waschsalonbetreiberin Evelyn (Michelle Yeoh), welche während eines Termins beim Finanzamt von ihrem Gatten Waymond (Ke Huy Quan), beziehungsweise genauer gesagt dessen Alternativversion aus einem Paralleluniversum, in eine Mission zur Rettung des Multiversums verwickelt wird. Und das ist nur der Anfang des Filmes! In den nächsten zwei Stunden werden wir u.a. sehen wie Menschen mit Hotdog-Fingern Klavier spielen, wie Glubschaugen-Steine philosophische Gespräche führen, ein Waschbär beim Kochen hilft und wie Männer um eine Buttplug-Trophäe kämpfen, welche ihnen rektal eingeführt besondere Fähigkeiten verleiht.
Das klingt jetzt alles erstmal super infantil und idiotisch und so hätte der Film auch werden können, in den Händen weniger begabter Regisseure. Doch die Daniels beweisen in ihrem zweiten Langfilm nach Swiss Army Man nicht nur eine klare Handschrift, sondern auch ein enormes Fingerspitzengefühl. Jede Albernheit wird durch ehrliche Emotionalität ausgeglichen, jeder (vorzüglich choreografierte) Martial-Arts-Kampf durch nachdenkliche Momente und jede multiverselle Bedrohung durch ein zu Herzen gehendes Familiendrama über intergenerationale Spannungen einer Familie chinesischer Amerikaner. Und wenn die Daniels, nachdem sie in den Fights bereits Jackie Chan geehrt haben (für den Ke Huy Quan übrigens als Stunt-Choreograph tätig war), noch Platz finden für eine ausgedehnte und sehr originalgetreue Hommage an die Filme von Wong Kar-wai (mit Quan als Tony-Leung-Surrogat), dann geht mir als Fan des Hongkong-Kinos einfach das Herz auf. Als jemand, der seine Cinephilie über Martial-Arts-Filme aus Fernost entdeckt hat, konnte mich kein anderer Film in diesem Jahr so sehr auf einer persönlichen Ebene erreichen wie Everything Everywhere All at Once. Und nicht nur, dass der Film eine Hommage an das Hongkong-Kino ist, er ist auch eine Ode an seine Hauptdarstellerin Michelle Yeoh, der die Rolle auf den Leib geschrieben wurde. Nicht nur, dass die Malaysierin diese komplexe, mehrschichtige Rolle mit Bravour meistert, es gibt (insbesondere in einer Nebenhandlung mit Evelyn als Filmstar) auch Querverweise auf ihre eigene Karriere, u.a. auf ihre Rolle in Ang Lees Wuxia-Meisterwerk Tiger & Dragon. Eine Rolle bei Wong Kar-wai war ihr bisher jedoch nie vergönnt, nicht zuletzt, da Yeoh meist eher für Actionrollen gecastet wurde.
Apropos: Ein weiteres Highlight im Film ist zweifelsohne Ke Huy Quan. Der ehemalige Kinderstar aus Indiana Jones und The Goonies zog sich (mangels Rollenangebote für junge chinesische Amerikaner) vom Schauspiel zurück, wurde Stuntchoreograph und feiert jetzt sein Comeback. In Everything Everywhere All at Once liefert er eine Performance, als wäre er nie weg gewesen, und das (dank der Multiversums-Thematik) gleich in drei verschiedenen Waymond-Rollen: dem verpeilten und tollpatschigen, aber herzlichen Ehemann, dem knallharten Martial-Arts-Kämpfer aus der Endzeit und dem eleganten, reichen Smokingträger aus der Wong-Kar-wai-Hommage. Zusammen mit Stephanie Hsu, die sowohl Evelyns queere Tochter, als auch die flamboyante Schurkin Jobu Tupaki verkörpert, ist Quan das Herz des Filmes und wird hoffentlich im März mit dem Nebendarsteller-Oscar prämiert, alles andere wäre tragisch. Auch für den Besten Filmschnitt sollte der Film in Betracht gezogen werden. Ich will mir gar nicht vorstellen, was für ein Kraftakt es gewesen sein muss, diesen Film zu schneiden, mit seinen zahlreichen Handlungsebenen und famosen Match-Cut-Sequenzen.
Everything Everywhere All at Once ist ein Film, der seinem immensen Hype gerecht wird (oder zumindest nur minimal überhypet ist). Ein Film, der nicht nur wahnsinnig gut unterhält, sondern auch herausragend inszeniert ist, toll geschrieben und gespielt und stets den schmalen Grat findet zwischen Albernheit und Tiefe, Action und Herz, Hommage und Innovation. Ganz großes Kino!
Memoria (Carl)
Dieses Jahr trifft es sich, dass mein Lieblingsfilm mit deutschem Kinostart 2022 und mein Lieblingskinoerlebnis des Jahres in perfekter Symbiose zusammenfallen. Es war der 6. Mai, als ich Memoria in dem wunderschönen Saal 1 des Passage Kinos in Berlin Neukölln sehen durfte. Der Saal war angemessen in seiner beeindruckenden Größe und Gestaltung, aber leider mit gerade einmal einer Handvoll Menschen und mir gefüllt. Nichtsdestotrotz war es eine Erfüllung, das aktuelle Werk des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul in Überlebensgröße zu erleben. Als eingefleischter Bewunderer des so verschrieenen Slow Cinema, des langsamen und sich herkömmlichen, geradlinigen Narrativen widersetzenden Kinos, war ich bereits vor diesem Film mit Weerasethakuls Stil vertraut und auf dessen einzigartig entschleunigte Erzählweise irgendwo zwischen magischem Realismus und cineastischem Tagtraum eingestellt. Dennoch war ich besonders gespannt auf Memoria, da es sich dabei um die erste nicht in dessen Heimat Thailand, sondern in Kolumbien angesiedelte Produktion des Regisseurs handelt und mit Tilda Swinton auch erstmals eine dem Mainstream bekannte Schauspielerin in deren Mittelpunkt stand.
Es ist eine tolle Mischung aus verschiedenen Einflüssen entstanden und auf schöne Weise die bisher zugänglichste Regiearbeit von Apichatpong Weerasethakul (ja, richtig gedacht, ich erwähne diesen Namen so oft es nur geht, einfach weil ich es kann) – ohne dabei die anspruchsvolle Tiefgründigkeit seiner vorherigen Arbeiten einzubüßen. Der narrative Inhalt von Memoria sei kurz damit beschrieben, dass die in Kolumbien lebende Schottin Jessica (gespielt von eben jener Tilda Swinton) eines Nachts von einem lauten Geräusch aufgeweckt wird. Als sie sich nach dessen Ursache erkundet, stellt sie zunächst fest, dass scheinbar nur sie das Geräusch hören kann und gerät durch ihre weitere (Sinn-)Suche auf immer ungewöhnlichere Pfade und zu einprägsamen Begegnungen. Schon allein das Sounddesign des Films ist meisterhaft und erzeugt eine faszinierende Handlungsebene, an welche sich die sichtbaren Szenen mit ihren traumartigen Bildern eng schmiegen können. In der Kombination mit beeindruckenden Schauspielleistungen, allen voran jener von einer atemberaubenden Tilda Swinton (ja, auch diesen Namen erwähne ich gerne immer wieder), die für diesen Film eigentlich sämtliche Schauspielpreise hätte gewinnen müssen, entführt Memoria auf eine cineastische Reise, deren Ausgang zu überraschen weiß und das Werk letztlich auch zu Apichatpong Weerasethakuls erstem Genrefilm macht – aber schaut am besten für euch selbst!
P.S. Memoria ist zum Veröffentlichkeitszeitpunkt im Abo bei MUBI und gegen eine gesonderte Gebühr bei Amazon Prime Video und Apple TV streambar.
P.P.S. Für alle Slow Cinema Nerds da draußen: Ich fühlte mich bei diesem Film immer wieder an das Werk des mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas erinnert, wenn ihr damit etwas anfangen könnt, dann schaut euch unbedingt Memoria an und seid mir freundlichgegrüßt.
P.P.P.S. Meine weiteren filmischen Empfehlungen aus 2022 sind Vortex, Gaspar Noés existenzialistischer Blick auf Liebe in Zeiten von Demenz, und Joachim Triers Der schlimmste Mensch der Welt, eine unterhalt- wie gefühlsame Abhandlung über Menschen, die höchstens ebenso schlimm sind wie wir alle.
Atlantide (Olli)
Nach pandemiebedingter Veranstaltungspause konnte es dieses Jahr endlich wieder losgehen mit Filmfestivalbesuchen. Beim KVIFF im tschechischen Karlovy Vary hatte ich das Vergnügen, im äußerst bequemen Kino Čas mein persönliches Filmhighlight des Jahres sehen zu dürfen. Der italienische Film Atlantide von Yuri Ancarani hat mich komplett in seinen Bann gezogen. Da der Film zum Glück auch dieses Jahr einen Kinostart in Deutschland erhalten hat (wenn auch viel zu kurzen), kann ich euch jetzt mitnehmen in die wunderschönen Lagunen Venedigs.
Der Videokünstler und Dokumentarfilmer Ancarani besuchte vor über 10 Jahren Venedig und wurde aufmerksam auf das Phänomen der sogenannten Barchini, hochgetunte Motorboote verziert mit LED-Lichtern und basslastigen Soundanlagen, mit denen junge Männer durch die Gegend heizen. Einheimische lehnen diese Art der Lebensgestaltung strikt ab und meinten auf seine Verständnisfragen nur: „They should not exist“. Für ihn war klar, er müsse einen Film darüber machen.
Der Film zeigt eine semifiktionale Momentaufnahme des langsamen Untergangs Venedigs durch die Brille der verachteten Jugend. Der 24-jährige Daniele ist ein Außenseiter von Sant’Erasmo, einer Randinsel in den Lagunen von Venedig. Außer seiner Freundin Maila wird er von seinen sonstigen Altersgenossen wenig beachtet. Um das zu ändern, setzt er sich das Ziel der schnellste Speedbootfahrer der Lagune zu werden. Mit nicht ganz legalen Methoden optimiert er seinem Banchino, um überhaupt eine Chance gegen seine Altersgenossen zu haben. Die Boote sind mit LED-Lichtern verziert, Soundboxen aufgerüstet und tragen selbstverständlich den eingravierten Namen der Geliebten. Die strotzende Maskulinität und Körper-fixiertheit sowie ein moderner Videolook mit LED-Wasserreflexionen in den engen Kanälen des nächtlichen Venedigs sind angesagt.
Gezeigt werden viele Aufnahmen von Bord der Speedboote, die Umfunktionierung von verlassenen Ruinen zu Partylocations sowie der hedonistisch gelebte Drogenkonsum. Gepaart wird diese sommerliche Bildgewalt mit Trap, Hiphop und Symphonischen Klängen, was zu einem stimmigen Gesamtkunstwerk verschmilzt.
Die Darsteller:innen sind aus dem echten Leben gegriffen und die Sprache der Jugendlichen wirkt erstaunlich authentisch. Die Dialoge sind der vierjährigen Recherchezeit entnommen, in denen sich der inzwischen 50-Jährige Ancarani zum Schauplatz begab und in das Leben der Jugend einschleuste und beobachtete. Die Annäherung war nach eigenen Angaben etwas schwierig, da er sich durch den großen Altersunterschied zuerst einmal das Vertrauen der Jugendlichen verdienen musste. In dieser Zeit entdeckte er auch für sich den Trapmusiker Sick Luke, welcher daraufhin auch die Filmmusik kuratieren durfte.
Von Ancarani als Drehbuchautor zu sprechen wäre allerdings etwas übertrieben, da eigentlich nur ein paar bestimmte Szenen feststanden und der Weg dorthin frei durch das reale Leben seine Darsteller:innen beeinflusst wurde.
Fast im Alleingang dreht Ancarani mit seiner kleine Kamera den kompletten Film und schafft es durch geschickte Dokumentarfilmertricks seinen Amateur-darsteller:innen eine äußerst natürliche Ausstrahlung zu entlocken. Die Kamera erzeugt durch ihre Nähe ein natürliches Dabeisein und obendrein besitzt der Film eine der surrealsten Drohnenfahrten der Filmgeschichte.
Obwohl ich zu meiner Jugendzeit wenig für das testosterongeschwängerte Tuninggehabe Gleichaltriger übrig hatte, finde ich es äußerst faszinierend zu sehen, dass sich diese motorisierte Obsession auch auf Umgebungen übertragen lassen, die nicht einmal Asphaltstraßen besitzen. Durch den zeitlichen und räumlichen Abstand entsteht für mich auch ein anderer Blickwinkel, der zum Nachdenken anregt, da sehr subtil das Konfliktverhältnis zur Elterngeneration aufgemacht wird. Die Ablehnung der Älteren wird durch Ihre nahezu filmische Abwesenheit verdeutlicht.
Der fehlende Freiraum den Venedig seiner Jugend bietet, erkämpft sich diese in den abseitigen Lagunen zurück und erschafft dort eine eigene Subkultur, welcher der Film Atlantide ein Andenken widmet. Für mich als alter Freund des Kunstdokumentationen-Genres ist Atlantide der schönste Film des Jahres. Ähnlich hoch im Kurs auf meiner persönlichen Topliste ist natürlich Aftersun, vielleicht ein Zeichen dafür, endlich mal wieder eine Reise gen Süden anzutreten!
Aftersun (Flip)
Die Schrift des Abspanns verschwimmt und ich bin den Tränen nahe. Mir steckt ein Kloß im Hals, der mich zu ersticken droht. Ich möchte im Augenblick mit niemandem reden, kann mit niemandem reden. Ich sitze wie benommen im Kinosessel und muss das Passierte erst einmal fassen. Ich wusste nicht, was mich bei Charlotte Wells‘ Regiedebüt Aftersun erwarten würde und das war auch gut so.
Das Surren einer Kamera ertönt, das Kassettenfach öffnet sich, und die auf Magnetband konservierten Erinnerungen laufen rückwärts ab. Verpixelte MiniDV Aufnahmen rasen vorüber, überschlagen sich, verzerren Gesichter und kommen abrupt zum Stehen. Es sind Fragmente, scheinbare Belanglosigkeiten und Albernheiten, die die Leerstellen der Erinnerung mit Video füllen. Die elfjährige Sophie (Frankie Corio) verbringt mit ihrem Vater Calum (Paul Mescal) Urlaub in einem türkischen Ferienressort. Mit dabei eine Videokamera, ein steter Begleiter, der zwischen Pool, Tauchgang und Hotelzimmer Situationen einfängt, die im ersten Moment trivial wirken. Doch hinter dem krisseligen Bild vermischen sich gegenwärtige und vergangene Erinnerungen und geben im Stroboskoplicht der Synapsen den fragmentarischen Blick in die Beziehung zwischen Vater und Tochter frei. Das kühle Nass unter dem sonnenbehangenen Himmel, der Geruch von Sonnencreme und der Geschmack von fruchtigen Drinks liegen wie eine weiche Decke über den Beiden. Doch während für Sophie der Sprung ins blaue Wasser mit Entdeckung, Emanzipation und Gefühlserweckung verbunden ist, beginnt Calum immer weiter zu sinken. Unter der aufgeweckten Oberfläche eines jungen, Anfang dreißigjährigen Vaters, erstreckt sich eine gebrechliche Tiefe voller Selbstzweifel, Angst und Depressionen. In der Dunkelheit der Nacht verschlingen ihn seine Schatten und das aufbrausende Meer wird zum Ort des Vergessens.
“Don't you ever feel like you've just done a whole amazing day and then you come home and feel tired and down and it feels like your organs don't work, they're just tired, and everything is tired. Like you're sinking. I don't know, it's weird.” sagt Sophie eines Abends auf dem Hotelbett kopfüber liegend. Daraufhin antwortet Calum im Badezimmer stehend “We’re here to have a good time.” und spuckt anschließend die Zahncreme auf sein Spiegelbild. Calum versucht sich seiner Fragilität nichts anmerken zu lassen und doch scheint Sophie in diesem Moment das auszusprechen, was er zu fühlen vermag. Trotzdem oder gerade deswegen ist das Band zwischen Vater und Tochter so intensiv und einfühlsam.
Das liegt vor allem an der schauspielerischen Leistung von Paul Mescal (Normal People, The Lost Daughter) und Frankie Corio, die in diesem Film ihr Schauspieldebüt feiert. Die Chemie zwischen den Beiden wirkt ganz natürlich und zwanglos, so als würden sie sich schon ihr ganzes Leben lang kennen. Corio findet dabei das perfekte Gleichgewicht zwischen kindlicher Albernheit und erwachsenem Ernst, während Mescal das Bild eines „funktionierenden“ Vaters und gleichzeitig fragilen Charakters verkörpert.
Die Bildsprache ist dabei ebenso gewaltig wie einfühlsam. Wie Balsam schmiegen sich die 16mm Aufnahmen des Kameramanns Gregory Oke an die Netzhaut der Zuschauenden. Das türkis-blaue Wasser der türkischen Riviera vermischt sich mit der melancholischen Sehnsucht der Erinnerungen. Reflektionen auf Oberflächen geben bruchstückhaft zu erkennen, was im tiefen-inneren der Charaktere verborgen liegt. Verschlungene Hände, innige Gesichtsaufnahmen und Körperteile verfestigen das emotionale Band zwischen Vater und Tochter.
Im Takt der neunziger Jahre wird der Film von Musik von Los Del Rio, R.E.M oder Blur untermalt. Außerdem gibt es eine der schönsten, intensivsten und emotionalsten Verwendungen von Queens und Bowies „Under Pressure“, die ich je gesehen und gehört habe. Leise und unscheinbar schlängelt sich der Score von Oliver Coates unter die Bilder und kreiert eine Atmosphäre, die ihresgleichen sucht.
Mittlerweile habe ich Aftersun das dritte Mal im Kino gesehen und es wird sicherlich nicht das letzte Mal gewesen sein. Mit jedem Mal schauen stolpere ich emotional zerrüttet aus dem Saal, mit jedem Mal entdecke ich neue Feinheiten, die mir zuvor verborgen geblieben sind, mit jedem Mal erlebe ich die Beziehung zweier Menschen, die sich wahrscheinlich das letzte Mal sehen werden. Ein Meisterwerk auf ganzer Linie!
Vortex (Anton)
Zu Beginn ist die Welt noch ganz. Ein altes Ehepaar trinkt auf dem Balkon einer Pariser Altbauwohnung Wein - sie: ehemalige Psychoanalytikerin, er: Filmtheoretiker. Doch wir sind vorgewarnt. "Für alle, deren Gehirn sich früher zersetzen wird als ihr Herz" stand da Sekunden früher noch als Abschluss der Credits auf der Leinwand. Was sich zuerst zersetzt, ist dann das Filmbild selbst. Schon anfangs irritieren die kurzen Schwarzbilder, die Noé bei jedem Schnitt einfügt. Es ist, als würde der Film uns vorwarnen, uns mit einer Leere, einem Nichts vertraut machen, das da hinter dem Filmbild wartet. Das Schwarz, die Abwesenheit des Bildes selbst, wird eine große Rolle spielen in diesem Film.
Die Zersetzung ist vor allem eine Entzweiung. Die namenlosen Protagonist*innen liegen schlafend im Bett, von oben in einem Two-Shot gefilmt. Dann sickert das Schwarz in Form einer vertikalen Linie in das Filmbild ein, bis aus einem Rahmen zwei werden, die sie und ihn vereinzeln. Nebeneinanderliegend hat sich eine Entfremdung ereignet, ein Auseinanderdriften der Realitäten, die von nun an getrennt bleiben, wie auch die filmischen Rahmen getrennt bleiben. Vortex schildert diese Trennung - sie wird durch eine Demenzerkrankung ausgelöst - in formalistischen Bildern, die einkesseln, kaum Platz zum Atmen lassen.
Denn Überschneidungen gibt es zwar noch zwischen den parallel erzählten Lebenswelten: die Bilder bestätigen dies, wenn die beiden zusammen am Tisch sitzen, seine Arme in "ihr" Bild hineinreichen. Doch in der Mitte ist und bleibt dieser schwarze Balken, der die Perspektive verzerrt, der für erstaunliche wie zerrüttende Konstellationen, für anatomische Fehlbildungen sorgt. Das Schwarz lässt die Bilder in der Schwebe verharren, stets umzingelt vom Nichts, das droht, sich weiter in den (die) Rahmen vorzudrängen, das sich schon im Zentrum des Films (da also, wo so oft die Haupt-Action geschieht) festgesetzt hat. Jede*r stirbt für sich allein.
Die Zweiteilung des filmischen Bildes sorgt auf Rezipient*innen-Seite natürlich für einen Entscheidungszwang. Wir können nicht alles auf einmal wahrnehmen, können nicht gleichzeitig Françoise Lebrun und Dario Argento zusehen. Das Hin-und-Her-springen des eigenen Blicks ist in Vortex angelegt, doch jede Entscheidung beinhaltet letztendlich eine Negierung. Was wir nicht wählen, geht verloren - auch wir löschen einen Teil des Bildes aus.
Im bisherigen Œuvre Noés sticht Vortex oberflächlich betrachtet stark heraus. Als Provokateur gekennzeichnet und somit schubladisiert dürfte der argentinische Regisseur hierzulande besonders durch seine drastischen Gewalt- und Drogendarstellungen, sowie für Cannes-Skandale bekannt sein. Lux Æterna (2019), in dem die Splitscreen-Thematik bereits (wenngleich deutlich weniger konsequent und gimmickhafter) erprobt wurde, kulminiert in einem etwa zehnminütigen Stroboskop-Hagel - sozusagen die heruntergebrochene Quintessenz von Noés Zuschauer*innen-Terrorisierungstaktik. Sicherlich ist es richtig, dass Vortex andere Töne anschlägt, der Film ließe sich auch unter Aspekten des Slow Cinema verstehen. An die Stelle von Lautstärke und Exzess tritt hier ein subtilerer Horror - von einer Reduktion der Intensität kann jedoch nicht gesprochen werden. Sieht man über die Diskrepanz zwischen Ruhe bei Vortex und Krach in seinen früheren Werken (besonders Irreversible, Climax und Enter the Void) hinweg, entpuppt sich Vortex als "klassischer" Noé. Inhaltliche Themenschwerpunkte wie die Erbarmungslosigkeit der Zeit (bei Irreversible hieß es ähnlich phrasenhaft wie im Vortex-Vorspann noch "Die Zeit zerstört alles") oder der Nihilismus werden konsequent variiert, die formalistische Stringenz und Waghalsigkeit zieht sich sowieso durch das Schaffen Noés. In kaum einem vorherigen Film des Regisseurs greifen die inhaltliche und formale Ebene jedoch so virtuos ineinander wie in Vortex. Nicht nur für das Vergessen, auch für den Tod findet Noé erstaunlich effektive wie intelligente Bilder.
Pornfluencer (Tim)
Ich muss gestehen, dass ich dieses Jahr leider gar nicht so viele Neuerscheinungen gesehen habe und die meisten davon waren dann auch noch eher mittelschlechte Wannabe-Blockbuster wie Thor - Love and Thunder. Daher ist mein Lieblingsfilm aus dem Jahr 2022 mal kein Spielfilm, sondern eine Dokumentation, welche aber auch in einigen Kinos zu sehen war.
Ich habe Pornfluencer im Rahmen eines Filmfestivals gesehen und hatte das große Glück, im Anschluss an die Vorführung noch mit zwei der Filmschaffenden von der Filmakademie Baden-Württemberg sprechen zu können. Die Dokumentation begleitet das Pärchen, bestehend aus Nico Nice und Jaime Young, welche nach Zypern gezogen sind, um ihrem Taum als Amateurporno-Produzenten nachzugehen. Es geht um den Alltag zweier junger Menschen, die ein Leben führen, welches für die meisten Menschen wahrscheinlich unvorstellbar ist. Die Dokumentation sollte sich ursprünglich mit dem Thema der Amateurpornografie auseinandersetzen, driftet dann aber sehr schnell zur Porträtierung eines Paares ab. Zum einen sind da idyllische Landschaftsaufnahmen, die völlig in ihre Katzen vernarrte Jaime und ein Paar, welches wirtschaftlich den absoluten Höhenflug hinlegt. Und dann ist da die andere Seite. Nico, der seine Freundin auf einem Parkplatz dazu bedrängt, sich auszuziehen obwohl diese am Anfang schon klar sagt, dass sie das nicht möchte. Am Ende lässt er davon ab, aber es drängt sich der Gedanke auf, dass allein die Kamera, welche auf ihn gerichtet ist, dafür verantwortlich ist. Zu solchen Szenen (von denen es mehrere gibt) gesellen sich Aussagen von seiner Seite über die Steigerung der Attraktivität des Mannes durch Sex mit anderen Frauen und Aussagen von ihr bezüglich ihrer Verpflichtung, ihren Freund sexuell befriedigen zu müssen.
Der Film ist dabei bis auf wenige kurze Sequenzen, in welchen Wissenschaftler und Experten interviewt werden, frei von jeglichem Kommentar. Damit erinnert die Dokumentation stark an ein anderes Werk: Lord of the Toys, ebenfalls von Studenten der Filmakademie Baden-Württemberg (dieser Film war auch schon im KiK zu sehen). Wo Lord of the Toys eher durch seinen Exzess und die politischen Ansichten schockiert, sind es bei Pornfluencer die Konservativität und Toxizität der Beziehung. Der Zuschauer ist dabei völlig alleine Gelassen damit, das Gesehene zu verarbeiten und einzuordnen. Beide Filme sind stark dafür kritisiert worden, dass sie diesen offenen Charakter haben. Und auch die Filmschaffenden sehen ein, dass dadurch Aussagen als gut angenommen werden, welche sie selbst nicht vertreten. Aber es ist auch genau dieser Charakter, der es schafft, mit dem Film zum Nachdenken anzuregen. Ein solcher Film lässt in meinen Augen wesentlich stärkere Gespräche zu und erzeugt somit eine viel größere Nachhaltigkeit. Damit wird Pornfluencer zu einem Film, den ich allen Liebhaber:innen von Dokumentationen wärmstens ans Herz lege.
Guillermo del Toro’s Pinocchio (Anne)
Es gab einen Tag im September, da kam Pinocchio raus. Voller Vorfreude öffnete ich Disney+ um mir den lang erwarteten neuen Film über die kleine Holzpuppe, die ein echter Junge werden wollte, anzugucken. Voller Horror musste ich feststellen, dass es die komplett falsche Version war. Im September kam nämlich die Disney-Version von Robert Zemeckis mit Tom Hanks und Joseph Gordon-Levitt auf Disney+ raus. Worauf ich mich jedoch schon eine Weile gefreut hatte, war die Guillermo del Toro-Version, die erst im Dezember auf Netflix erscheinen sollte. Meine Stimmung war gesunken, wie der Wal, der Gepetto und Pinocchio verschluckt. Noch so lange warten!
Doch ganz ehrlich? Das Warten hat sich extrem gelohnt, denn del Toro hat mit dem Stop-Motion-Film „Pinocchio“ ein erneutes Meisterwerk erschaffen. Nicht nur, dass die Story einem das Herz rausreisst und man dann leer am Boden liegt und sich die Seele rausweint, nein, man kommt auch aus dem Staunen nicht raus, wenn man sich vor Augen führt, dass der ganze Film Handarbeit ist. Die Sets, die Puppen, die Effekte, alles ist höchste Craftmanship und einfach bewundernswert. Da kann die Disney-Version nicht mithalten. (tbh: Ich hab die Disney-Version gar nicht geguckt…)
Natürlich musste ich nicht nur weinen wie ein Schlosshund am Ende, sondern konnte auch Lachen. Über die kleinen Witze, die One-Liner von Ewan McGregor, der, so witzig wie noch nie, die Grille Sebastian J. Cricket spricht. Beste Figur einfach! Und Cate Blanchett als Spazzatura, ein Äffchen, welches nicht wirklich spricht. Also hohes Staraufgebot! Genial auch, Pinocchio eben in eine ernste Weltlage zu setzen. Faschismus und Krieg, dem auch der kleine Holzjunge strotzen muss. Zusätzlich zum Horror der echten Welt, gibt es die magische Seite, mit kartenspielenden Hasen des Todes (auch meine Favoriten) und Wesen, die den biblischen Engeln gleichen und Pinocchio quasi mehrere Leben einhauchen.
Ganz in Disney-Manier gibt es aber auch Songs, die zwar bestimmt keine Hits werden, aber dennoch nett sind und sich gut ins Gesamtwerk einfügen. Alles in allem kein Film „für mal eben“ und „für die Kinder“, denn die Themen sind doch ein bisschen härter, da muss man (als emotionales Wrack) schon ein bisschen Schlucken.
Große Empfehlung also von mir, schaut euch meinen Lieblingsfilm 2022 vom Großmeister Guillermo del Toro an!